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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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muß eine nothwendige Vorstufe des folgenden sein und der Schluß muß alle
Fäden gewaltig zusammenfassen und in uns den Eindruck der Einheit hervorbringen.
Das ist ein Gesetz, welches sich nicht blos ans jedes Epos, auf jedes Drama,
auf jede poetische Leistung überhaupt erstreckt, sondern auf jede Rede, auf jedes
Gespräch, auf jede Abhandlung, auf jeden mathematischen Beweis. Der mensch¬
liche Geist ist im Gebiet der Kunst kein anderer, als im Gebiet der Wissenschaft.
Seine Spannung erfolgt nach denselben Gesetzen und nur die technischen Mittel
sind verschieden, je nach der Seelenkraft, ans die man wirken will.

Die Komposition ist nun in Gottschalks Gedicht das allerschwächste. Zwar
ist es ein Fortschritt gegen "die Göttin", daß überhaupt eine Gliederung versucht
ist, da in jenem früheren Gedicht alles Einzelne stückweise auseinanderfiel, aber
die Gliederung selbst ist verfehlt. Die einzige Einheit in den fünf Gesängen
besteht darin, daß sie den nämlichen Helden haben. Im ersten Gesänge nimmt
Zeno die Partei des gestürzten griechischen Kaisers Johannes gegen seinen ge¬
blendeten Sohn, veranlaßt durch eine Geliebte, die nach dem Kampf unter schreck¬
lichen Martern hingerichtet wird. ' Warum wir für Johannes Partei nehmen
sollen, warum Zeno, warum Endoxia für ihn Partei nehmen, das erfahren wir
nicht, noch viel weniger warum das arme Mädchen zwecklos hereingemischt wird,
um gleich im ersten Gesänge einem grausamen Schicksal zu erliegen und dann
vergessen zu werden. Im zweiten Gesänge zeichnet sich Zeno im Kriege gegen
die Genueser aus, im dritten verheirathet er sich auf eine etwas abenteuerliche
Art, im vierten hat er wieder einen glücklichen Feldzug, der ihm aber dadurch
verbittert wird, daß der Staat ihn zwingt, sein Ehrenwort gegen einen besiegten
Feind zu brechen und noch zum Schluß dieses Gesanges wird er in die Blei-
kammern geschickt. Im fünften Gesänge finden wir ihn ass Greis, gebeugt von
der langen Kerkerhaft, er unternimmt eine Pilgerfahrt, findet aber noch kurz vor
seinem Tode Gelegenheit, sich durch eine ritterliche That auszuzeichnen. Es ist
in diesen Geschichten nur ein ganz loser Zusammenhang. Mit Ausnahme Zeuos
kommen in jedem Gesänge andere Personen vor, um nachher uicht wieder erwähnt
zu werden. Der Schluß hat einen pietistischer oder wenn der Ausdruck zu hart
sein sollte, einen sentimentalen Beigeschmack. Aber auch der Bau der einzelnen
Sätze ist fehlerhaft. So wird namentlich im vierten Gesänge das Schlachtgemälde
sehr weitläufig ausgeführt, obgleich wir schon im zweiten ein ganz ähnliches
Schlachtgemälde hatten und die diplomatischen Intriguen, die hier die Hauptsache'
sein, und uns den finstern Geist der venetianischen Politik versinnlichen sollten,
werden ans eine ganz matte Weise hinzugefügt. Wir sind gar nicht in der
Stimmung dieses Ausgangs. Der Dichter mußte die Politik in den Vordergrund
schieben, um uns auf das Dämonische des Schicksals vorzubereiten. Aber daß zu
jeder Handlung eine bestimmte Stimmung gehört, davon scheint er keinen Begriff
zu haben. Am besten ist noch die Stimmung im dritten Gesänge gehalten, aber


muß eine nothwendige Vorstufe des folgenden sein und der Schluß muß alle
Fäden gewaltig zusammenfassen und in uns den Eindruck der Einheit hervorbringen.
Das ist ein Gesetz, welches sich nicht blos ans jedes Epos, auf jedes Drama,
auf jede poetische Leistung überhaupt erstreckt, sondern auf jede Rede, auf jedes
Gespräch, auf jede Abhandlung, auf jeden mathematischen Beweis. Der mensch¬
liche Geist ist im Gebiet der Kunst kein anderer, als im Gebiet der Wissenschaft.
Seine Spannung erfolgt nach denselben Gesetzen und nur die technischen Mittel
sind verschieden, je nach der Seelenkraft, ans die man wirken will.

Die Komposition ist nun in Gottschalks Gedicht das allerschwächste. Zwar
ist es ein Fortschritt gegen „die Göttin", daß überhaupt eine Gliederung versucht
ist, da in jenem früheren Gedicht alles Einzelne stückweise auseinanderfiel, aber
die Gliederung selbst ist verfehlt. Die einzige Einheit in den fünf Gesängen
besteht darin, daß sie den nämlichen Helden haben. Im ersten Gesänge nimmt
Zeno die Partei des gestürzten griechischen Kaisers Johannes gegen seinen ge¬
blendeten Sohn, veranlaßt durch eine Geliebte, die nach dem Kampf unter schreck¬
lichen Martern hingerichtet wird. ' Warum wir für Johannes Partei nehmen
sollen, warum Zeno, warum Endoxia für ihn Partei nehmen, das erfahren wir
nicht, noch viel weniger warum das arme Mädchen zwecklos hereingemischt wird,
um gleich im ersten Gesänge einem grausamen Schicksal zu erliegen und dann
vergessen zu werden. Im zweiten Gesänge zeichnet sich Zeno im Kriege gegen
die Genueser aus, im dritten verheirathet er sich auf eine etwas abenteuerliche
Art, im vierten hat er wieder einen glücklichen Feldzug, der ihm aber dadurch
verbittert wird, daß der Staat ihn zwingt, sein Ehrenwort gegen einen besiegten
Feind zu brechen und noch zum Schluß dieses Gesanges wird er in die Blei-
kammern geschickt. Im fünften Gesänge finden wir ihn ass Greis, gebeugt von
der langen Kerkerhaft, er unternimmt eine Pilgerfahrt, findet aber noch kurz vor
seinem Tode Gelegenheit, sich durch eine ritterliche That auszuzeichnen. Es ist
in diesen Geschichten nur ein ganz loser Zusammenhang. Mit Ausnahme Zeuos
kommen in jedem Gesänge andere Personen vor, um nachher uicht wieder erwähnt
zu werden. Der Schluß hat einen pietistischer oder wenn der Ausdruck zu hart
sein sollte, einen sentimentalen Beigeschmack. Aber auch der Bau der einzelnen
Sätze ist fehlerhaft. So wird namentlich im vierten Gesänge das Schlachtgemälde
sehr weitläufig ausgeführt, obgleich wir schon im zweiten ein ganz ähnliches
Schlachtgemälde hatten und die diplomatischen Intriguen, die hier die Hauptsache'
sein, und uns den finstern Geist der venetianischen Politik versinnlichen sollten,
werden ans eine ganz matte Weise hinzugefügt. Wir sind gar nicht in der
Stimmung dieses Ausgangs. Der Dichter mußte die Politik in den Vordergrund
schieben, um uns auf das Dämonische des Schicksals vorzubereiten. Aber daß zu
jeder Handlung eine bestimmte Stimmung gehört, davon scheint er keinen Begriff
zu haben. Am besten ist noch die Stimmung im dritten Gesänge gehalten, aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/24>, abgerufen am 22.07.2024.