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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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das Übersinnliche anwenden wollen, so müssen wir wenigstens einigermaßen an
die hergebrachten, unserer Phantasie geläufigen Vorstellungen anknüpfen; auf-
zwingen lassen wir uns das Übernatürliche nicht, es muß sich uns einschmeicheln.
So hat es z. B. Byron in seiner "Belagerung von Corinth" gemacht, und
grade diese Stelle ist so schön, daß wir sie unmöglich wegwünsche" können.

Machen wir von diesen Bemerkungen Anwendung auf das Gedicht von
Gottschall, so müssen wir die Wahl seines Stoffs als eine unglückliche bezeichnen.
Es gibt vielleicht keine historischen Stoffe, deren sittliche Voraussetzungen sowenig
geeignet sind, uns in irgend einer poetischen Form anschaulich und verständlich
gemacht zu werden, als Byzanz und Venedig. Ein Kaiser, der seinen Sohn
blenden läßt und dann von diesem in einen unterirdischen Kerker geworden wird,
eine Republik, die nichts Eiligeres zu thun hat, als ihre edelsten Helden, wenn
sie nur irgend verbraucht siud, in die Bleikammern zu schicken, das sind Gegen¬
stände, die wir uns in einer Chronik gefallen lassen, denen wir aber in der Poesie
kein Interesse abgewinnen. Einzelne Schilderungen aus dem abenteuerlichen
Kriegsleben, die uns als erfrischende Ausbeute dieses Stoffs zufallen, sind be¬
reits von Byron viel besser behandelt: wir könnten fast überall nachweisen,
welche Stelle dem Dichter vorgeschwebt hat.

Wir gehen zur Coa Position über. Hier wird sich nur für den Be¬
fangenen verkennen lassen, daß die Hauptgesetze des Dramas auch im Epos'
ihre Anwendung siudeu müssen. Denn das eine wie das andere soll uns eine
Handlung versinnlichen, und wenn diese ans unsere Phantasie den richtigen Ein¬
druck machen soll, so muß.sie uns klar und verständlich exponirt, in übersichtlicher
Gliederung und in fortschreitender Spannung weiter geführt und zu einem Knoten
verrinigt werden, der schließlich eine Lösung findet. Was man also gemeinhin
Intrigue nennt, d. h. das nothwendige und einheitliche Ineinandergreifen von
Ursache "ut Wirkung, ist im Epos ebenso nothwendig, wie im Drama. In dem
einen wie in dem andern muß jede Figur ihre bestimmte in die Architektonik des
Ganzen gehörige Stellung haben. Eine lose Verwebung vou Handlungen, die
ebensogut auch getrennt gedacht werden können, wird uns bei der Vorlesung
ebenso ermüden und abspannen, wie ans der Bühne. Was ferner die Ruhepunkte
eines größeren Gedichts und die dadurch herbeigeführte Eintheilung in Gesänge
betrifft, so wird sie im wesentlichen den Acten des Dramas entsprechen. Jeder
einzelne Gesang muß in gewissem Sinne ein Ganzes für sich sein, er muß wie
em landschaftliches Gemälde ans dem Nebel allmälig vor unseren Augen hervor¬
treten, und indem wir die Empfindung des successiven Geschehens habe", muß
es doch den Eindruck eiues geschlossenen Bildes auf uns machen. Was der
Dramatiker in voller physischer Wirklichkeit vor unsren Augen entfaltet, muß der
epische Dichter durch den Zauber der Sprache erreichen. Ferner müsse" diese
Gesänge sich zu dem Ganzen gliedern, wie die Acte zum Drama, jeder Gesaug


das Übersinnliche anwenden wollen, so müssen wir wenigstens einigermaßen an
die hergebrachten, unserer Phantasie geläufigen Vorstellungen anknüpfen; auf-
zwingen lassen wir uns das Übernatürliche nicht, es muß sich uns einschmeicheln.
So hat es z. B. Byron in seiner „Belagerung von Corinth" gemacht, und
grade diese Stelle ist so schön, daß wir sie unmöglich wegwünsche» können.

Machen wir von diesen Bemerkungen Anwendung auf das Gedicht von
Gottschall, so müssen wir die Wahl seines Stoffs als eine unglückliche bezeichnen.
Es gibt vielleicht keine historischen Stoffe, deren sittliche Voraussetzungen sowenig
geeignet sind, uns in irgend einer poetischen Form anschaulich und verständlich
gemacht zu werden, als Byzanz und Venedig. Ein Kaiser, der seinen Sohn
blenden läßt und dann von diesem in einen unterirdischen Kerker geworden wird,
eine Republik, die nichts Eiligeres zu thun hat, als ihre edelsten Helden, wenn
sie nur irgend verbraucht siud, in die Bleikammern zu schicken, das sind Gegen¬
stände, die wir uns in einer Chronik gefallen lassen, denen wir aber in der Poesie
kein Interesse abgewinnen. Einzelne Schilderungen aus dem abenteuerlichen
Kriegsleben, die uns als erfrischende Ausbeute dieses Stoffs zufallen, sind be¬
reits von Byron viel besser behandelt: wir könnten fast überall nachweisen,
welche Stelle dem Dichter vorgeschwebt hat.

Wir gehen zur Coa Position über. Hier wird sich nur für den Be¬
fangenen verkennen lassen, daß die Hauptgesetze des Dramas auch im Epos'
ihre Anwendung siudeu müssen. Denn das eine wie das andere soll uns eine
Handlung versinnlichen, und wenn diese ans unsere Phantasie den richtigen Ein¬
druck machen soll, so muß.sie uns klar und verständlich exponirt, in übersichtlicher
Gliederung und in fortschreitender Spannung weiter geführt und zu einem Knoten
verrinigt werden, der schließlich eine Lösung findet. Was man also gemeinhin
Intrigue nennt, d. h. das nothwendige und einheitliche Ineinandergreifen von
Ursache »ut Wirkung, ist im Epos ebenso nothwendig, wie im Drama. In dem
einen wie in dem andern muß jede Figur ihre bestimmte in die Architektonik des
Ganzen gehörige Stellung haben. Eine lose Verwebung vou Handlungen, die
ebensogut auch getrennt gedacht werden können, wird uns bei der Vorlesung
ebenso ermüden und abspannen, wie ans der Bühne. Was ferner die Ruhepunkte
eines größeren Gedichts und die dadurch herbeigeführte Eintheilung in Gesänge
betrifft, so wird sie im wesentlichen den Acten des Dramas entsprechen. Jeder
einzelne Gesang muß in gewissem Sinne ein Ganzes für sich sein, er muß wie
em landschaftliches Gemälde ans dem Nebel allmälig vor unseren Augen hervor¬
treten, und indem wir die Empfindung des successiven Geschehens habe», muß
es doch den Eindruck eiues geschlossenen Bildes auf uns machen. Was der
Dramatiker in voller physischer Wirklichkeit vor unsren Augen entfaltet, muß der
epische Dichter durch den Zauber der Sprache erreichen. Ferner müsse» diese
Gesänge sich zu dem Ganzen gliedern, wie die Acte zum Drama, jeder Gesaug


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[0023] das Übersinnliche anwenden wollen, so müssen wir wenigstens einigermaßen an die hergebrachten, unserer Phantasie geläufigen Vorstellungen anknüpfen; auf- zwingen lassen wir uns das Übernatürliche nicht, es muß sich uns einschmeicheln. So hat es z. B. Byron in seiner „Belagerung von Corinth" gemacht, und grade diese Stelle ist so schön, daß wir sie unmöglich wegwünsche» können. Machen wir von diesen Bemerkungen Anwendung auf das Gedicht von Gottschall, so müssen wir die Wahl seines Stoffs als eine unglückliche bezeichnen. Es gibt vielleicht keine historischen Stoffe, deren sittliche Voraussetzungen sowenig geeignet sind, uns in irgend einer poetischen Form anschaulich und verständlich gemacht zu werden, als Byzanz und Venedig. Ein Kaiser, der seinen Sohn blenden läßt und dann von diesem in einen unterirdischen Kerker geworden wird, eine Republik, die nichts Eiligeres zu thun hat, als ihre edelsten Helden, wenn sie nur irgend verbraucht siud, in die Bleikammern zu schicken, das sind Gegen¬ stände, die wir uns in einer Chronik gefallen lassen, denen wir aber in der Poesie kein Interesse abgewinnen. Einzelne Schilderungen aus dem abenteuerlichen Kriegsleben, die uns als erfrischende Ausbeute dieses Stoffs zufallen, sind be¬ reits von Byron viel besser behandelt: wir könnten fast überall nachweisen, welche Stelle dem Dichter vorgeschwebt hat. Wir gehen zur Coa Position über. Hier wird sich nur für den Be¬ fangenen verkennen lassen, daß die Hauptgesetze des Dramas auch im Epos' ihre Anwendung siudeu müssen. Denn das eine wie das andere soll uns eine Handlung versinnlichen, und wenn diese ans unsere Phantasie den richtigen Ein¬ druck machen soll, so muß.sie uns klar und verständlich exponirt, in übersichtlicher Gliederung und in fortschreitender Spannung weiter geführt und zu einem Knoten verrinigt werden, der schließlich eine Lösung findet. Was man also gemeinhin Intrigue nennt, d. h. das nothwendige und einheitliche Ineinandergreifen von Ursache »ut Wirkung, ist im Epos ebenso nothwendig, wie im Drama. In dem einen wie in dem andern muß jede Figur ihre bestimmte in die Architektonik des Ganzen gehörige Stellung haben. Eine lose Verwebung vou Handlungen, die ebensogut auch getrennt gedacht werden können, wird uns bei der Vorlesung ebenso ermüden und abspannen, wie ans der Bühne. Was ferner die Ruhepunkte eines größeren Gedichts und die dadurch herbeigeführte Eintheilung in Gesänge betrifft, so wird sie im wesentlichen den Acten des Dramas entsprechen. Jeder einzelne Gesang muß in gewissem Sinne ein Ganzes für sich sein, er muß wie em landschaftliches Gemälde ans dem Nebel allmälig vor unseren Augen hervor¬ treten, und indem wir die Empfindung des successiven Geschehens habe», muß es doch den Eindruck eiues geschlossenen Bildes auf uns machen. Was der Dramatiker in voller physischer Wirklichkeit vor unsren Augen entfaltet, muß der epische Dichter durch den Zauber der Sprache erreichen. Ferner müsse» diese Gesänge sich zu dem Ganzen gliedern, wie die Acte zum Drama, jeder Gesaug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/23>, abgerufen am 25.08.2024.