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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Wände sind mit Kork bekleidet, um ihr das Ansehen einer Hütte zu geben, die
nach hinten offen ist, die Coulissen im Hintergründe stellen Bethlehem und seine
Umgegend mit vielen kleinen Figuren von Menschen und Thieren vor. Vorn
liegt das Kind ans Stroh, von Marie und Joseph umgeben, zur Seite knien
die Hirten; alles dies sind lebensgroße, aus Holz geschnitzte, bemalte und mit
wirklichen Stoffen bekleidete Figuren. Oben schwebt Gott Vater in einer Glorie
von Engeln aus Pappe. Das Ganze ist geschickt beleuchtet. Außerhalb der
Kapelle kniet links der Kaiser Augustus im Lorbeerkranz und Purpurmantel und
rechts steht die Knmanische Sibylle, ein hübsches, junges Frauenzimmer in
weißem Kleide und blauen Ueberwurf. Einer alten Sage nach soll nämlich die
Kirche ans der Stelle gebaut sein, ans der die Sibylle dem römischen Imperator
die Jungfrau mit dem Kinde sehen ließ. -- Leider gerieth ich bei dem Besuch
der Kirche in die Predigt eines Franziscaners hinein. Dieser, ein gemeiner
widerwärtiger Kerl, donnerte gegen die heidnischen Lügenphilosophen, welche zu
behaupten wagen, daß die Menschheit dnrch eigene Anstrengung, ohne göttliche
Gnade Fortschritte mache" könne. Um sie zu widerlegen, entwarf er eine
Schilderung des Heidenthums, wie es wirtlich war, nämlich ein Pfuhl aller
Laster, Greuel und Verbrechen. Als er das Register sämmtlicher Todsünden
erschöpft halte (die seiner Meinung nach im Alterthum fortwährend begangen
wurden, ohne daß es jemandem besonders auffiel) und beim Vatermord angelangt
war, rief er ans: orale-ol ZU oreovln, si^noei alvi, nurro co8ö orriKilU Nun
wendete er sich gegen die Thür der Kirche und schrie leidenschaftlich: acLorrels
o Mosoül Kommt mit euer" Rathschlägen, die Welt aus dieser Tiefe des Elends
zu reiten! und so ging es eine Zeitlang mit den heftigsten Gesticulationen fort,
bis er endlich erschöpft innehielt, sich wieder zu den Zuhörern kehrte und sich vor
die Stirn schlagend sprach: ma eds slvllo ni son lo! Sie können die Welt wol
verderben, aber nicht erlösen! Er setzte dann die Grundsätze der einzelnen Philo¬
sophen auseinander: Epikur hielt um der körperlichen Wollust willen jedes Ver¬
brechen für erlaubt, Zeno wollte, daß der Mensch ein ungesitteter, ungeselliger
Misanthrop sei, sollten anch die Bande der Gesellschaft zerrissen werden, Zoroaster
erlaubte den Betrug, Plato wollte die Ehe ausheben u. s. w. -- Die Gesetze,
wenn es deren gab -- waren nur Antorisationen von Verbrechen: in Asien war
Blutschande, in Sparta Diebstahl erlaubt, in Korinth (was den Philologen neu
sein wird) wurden altersschwache Greift ermordet. -- Die Religion -- wenn
sie Verbrechen verbot -- stellte den Uebertretern so unbedeutende Strafen in
Aussicht, daß sie niemand abschreckten,'und den Gehorsamen so unbedeutende Be¬
lohnungen, daß sie niemand verlocken konnten. Die Götter beschützten jeder ein
anderes Laster, Merkur den Diebstahl, Bachus den Trunk n. s. w. Die antiken
Städte waren Schauplätze fortwährender Schandthaten. In Tyrus ward die
Keuschheit der Jungfrauen geopfert, in Karthago Menschen in glühenden Ofen


Wände sind mit Kork bekleidet, um ihr das Ansehen einer Hütte zu geben, die
nach hinten offen ist, die Coulissen im Hintergründe stellen Bethlehem und seine
Umgegend mit vielen kleinen Figuren von Menschen und Thieren vor. Vorn
liegt das Kind ans Stroh, von Marie und Joseph umgeben, zur Seite knien
die Hirten; alles dies sind lebensgroße, aus Holz geschnitzte, bemalte und mit
wirklichen Stoffen bekleidete Figuren. Oben schwebt Gott Vater in einer Glorie
von Engeln aus Pappe. Das Ganze ist geschickt beleuchtet. Außerhalb der
Kapelle kniet links der Kaiser Augustus im Lorbeerkranz und Purpurmantel und
rechts steht die Knmanische Sibylle, ein hübsches, junges Frauenzimmer in
weißem Kleide und blauen Ueberwurf. Einer alten Sage nach soll nämlich die
Kirche ans der Stelle gebaut sein, ans der die Sibylle dem römischen Imperator
die Jungfrau mit dem Kinde sehen ließ. — Leider gerieth ich bei dem Besuch
der Kirche in die Predigt eines Franziscaners hinein. Dieser, ein gemeiner
widerwärtiger Kerl, donnerte gegen die heidnischen Lügenphilosophen, welche zu
behaupten wagen, daß die Menschheit dnrch eigene Anstrengung, ohne göttliche
Gnade Fortschritte mache» könne. Um sie zu widerlegen, entwarf er eine
Schilderung des Heidenthums, wie es wirtlich war, nämlich ein Pfuhl aller
Laster, Greuel und Verbrechen. Als er das Register sämmtlicher Todsünden
erschöpft halte (die seiner Meinung nach im Alterthum fortwährend begangen
wurden, ohne daß es jemandem besonders auffiel) und beim Vatermord angelangt
war, rief er ans: orale-ol ZU oreovln, si^noei alvi, nurro co8ö orriKilU Nun
wendete er sich gegen die Thür der Kirche und schrie leidenschaftlich: acLorrels
o Mosoül Kommt mit euer» Rathschlägen, die Welt aus dieser Tiefe des Elends
zu reiten! und so ging es eine Zeitlang mit den heftigsten Gesticulationen fort,
bis er endlich erschöpft innehielt, sich wieder zu den Zuhörern kehrte und sich vor
die Stirn schlagend sprach: ma eds slvllo ni son lo! Sie können die Welt wol
verderben, aber nicht erlösen! Er setzte dann die Grundsätze der einzelnen Philo¬
sophen auseinander: Epikur hielt um der körperlichen Wollust willen jedes Ver¬
brechen für erlaubt, Zeno wollte, daß der Mensch ein ungesitteter, ungeselliger
Misanthrop sei, sollten anch die Bande der Gesellschaft zerrissen werden, Zoroaster
erlaubte den Betrug, Plato wollte die Ehe ausheben u. s. w. — Die Gesetze,
wenn es deren gab — waren nur Antorisationen von Verbrechen: in Asien war
Blutschande, in Sparta Diebstahl erlaubt, in Korinth (was den Philologen neu
sein wird) wurden altersschwache Greift ermordet. — Die Religion — wenn
sie Verbrechen verbot — stellte den Uebertretern so unbedeutende Strafen in
Aussicht, daß sie niemand abschreckten,'und den Gehorsamen so unbedeutende Be¬
lohnungen, daß sie niemand verlocken konnten. Die Götter beschützten jeder ein
anderes Laster, Merkur den Diebstahl, Bachus den Trunk n. s. w. Die antiken
Städte waren Schauplätze fortwährender Schandthaten. In Tyrus ward die
Keuschheit der Jungfrauen geopfert, in Karthago Menschen in glühenden Ofen


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[0234] Wände sind mit Kork bekleidet, um ihr das Ansehen einer Hütte zu geben, die nach hinten offen ist, die Coulissen im Hintergründe stellen Bethlehem und seine Umgegend mit vielen kleinen Figuren von Menschen und Thieren vor. Vorn liegt das Kind ans Stroh, von Marie und Joseph umgeben, zur Seite knien die Hirten; alles dies sind lebensgroße, aus Holz geschnitzte, bemalte und mit wirklichen Stoffen bekleidete Figuren. Oben schwebt Gott Vater in einer Glorie von Engeln aus Pappe. Das Ganze ist geschickt beleuchtet. Außerhalb der Kapelle kniet links der Kaiser Augustus im Lorbeerkranz und Purpurmantel und rechts steht die Knmanische Sibylle, ein hübsches, junges Frauenzimmer in weißem Kleide und blauen Ueberwurf. Einer alten Sage nach soll nämlich die Kirche ans der Stelle gebaut sein, ans der die Sibylle dem römischen Imperator die Jungfrau mit dem Kinde sehen ließ. — Leider gerieth ich bei dem Besuch der Kirche in die Predigt eines Franziscaners hinein. Dieser, ein gemeiner widerwärtiger Kerl, donnerte gegen die heidnischen Lügenphilosophen, welche zu behaupten wagen, daß die Menschheit dnrch eigene Anstrengung, ohne göttliche Gnade Fortschritte mache» könne. Um sie zu widerlegen, entwarf er eine Schilderung des Heidenthums, wie es wirtlich war, nämlich ein Pfuhl aller Laster, Greuel und Verbrechen. Als er das Register sämmtlicher Todsünden erschöpft halte (die seiner Meinung nach im Alterthum fortwährend begangen wurden, ohne daß es jemandem besonders auffiel) und beim Vatermord angelangt war, rief er ans: orale-ol ZU oreovln, si^noei alvi, nurro co8ö orriKilU Nun wendete er sich gegen die Thür der Kirche und schrie leidenschaftlich: acLorrels o Mosoül Kommt mit euer» Rathschlägen, die Welt aus dieser Tiefe des Elends zu reiten! und so ging es eine Zeitlang mit den heftigsten Gesticulationen fort, bis er endlich erschöpft innehielt, sich wieder zu den Zuhörern kehrte und sich vor die Stirn schlagend sprach: ma eds slvllo ni son lo! Sie können die Welt wol verderben, aber nicht erlösen! Er setzte dann die Grundsätze der einzelnen Philo¬ sophen auseinander: Epikur hielt um der körperlichen Wollust willen jedes Ver¬ brechen für erlaubt, Zeno wollte, daß der Mensch ein ungesitteter, ungeselliger Misanthrop sei, sollten anch die Bande der Gesellschaft zerrissen werden, Zoroaster erlaubte den Betrug, Plato wollte die Ehe ausheben u. s. w. — Die Gesetze, wenn es deren gab — waren nur Antorisationen von Verbrechen: in Asien war Blutschande, in Sparta Diebstahl erlaubt, in Korinth (was den Philologen neu sein wird) wurden altersschwache Greift ermordet. — Die Religion — wenn sie Verbrechen verbot — stellte den Uebertretern so unbedeutende Strafen in Aussicht, daß sie niemand abschreckten,'und den Gehorsamen so unbedeutende Be¬ lohnungen, daß sie niemand verlocken konnten. Die Götter beschützten jeder ein anderes Laster, Merkur den Diebstahl, Bachus den Trunk n. s. w. Die antiken Städte waren Schauplätze fortwährender Schandthaten. In Tyrus ward die Keuschheit der Jungfrauen geopfert, in Karthago Menschen in glühenden Ofen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/234>, abgerufen am 29.06.2024.