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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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ihn zu bitten, es einen Tag früher zu thun. Da hört doch aller Menschen¬
verstand auf. Und das alles geschieht nur, um die Lady in einem Augenblicke
in das Haus des Advocaten zu bringen, wo dieser ermordet wird, und so auch
noch den Verdacht des Mordes ans sie zu lenken. Auf diese Weise mit seinen
Figuren umzugehen, um den Schicksalsknoten zu verwirren, als ob sie Draht¬
puppen wären, ist unerlaubt. Zum Schluß macht sie bei dem schrecklichsten Wetter,
halb entblößt, sie, die feine Weltdame, eine lange Fußreise, um -- auf einem
schmuizigeu Kirchhof zu verfaulen. Das ist unter allen möglichen Uuwahrscheinlich-
keiten die größte, und zeigt handgreiflich, daß die Gewalt der Stimmung sich voll¬
ständig des Dichters bemeistert und ihm alle Ueberlegung genommen hat. -- Noch
unbegreiflicher ist uns das Benehmen des Advocaten. Er ist allerdings ein Ori¬
ginal, ein zugeknöpfter Mensch, wie Herr Carter, der es nicht liebt, seine Beweg¬
gründe der Welt mitzutheilen, aber grade bei solchen Charakteren hat der Dichter
die Aufgabe, uus das Verborgene zu enthüllen, wenigstens müssen wir auf eine
Spur geleitet werden, auf der wir uus ein Verständniß erwerben können. Car-
ters Benehmen war zwar ebenso excentrisch wie seine Absicht, aber es war doch
eine Absicht da, man konnte sich eine Regel abstrahiren. Bei Tülkinghoru da¬
gegen haben wir auch uicht die entfernteste Ahnung, was er eigentlich will. Die
Art und Weise, wie er die Lady behandelt, ist so ungewöhnlich, daß nur sehr
stark hervorgehobene psychologische Motive sie rechtfertigen könnten; aber so aus
allem Zusammenhang gerissen, erscheint sie uns nur absurd. -- Die beste Figur
in dieser Gruppe ist unzweifelhaft der Baronet, ein mit großer sinnlicher Wahr¬
heit angeschauter Charakter, bei dem wir nur eine etwas feinere Färbung wünsch¬
ten, wie sie Walter Scott in ähnlichen Fällen anwendet. Denn in diesem eiteln
Thoren ist ein sehr guter, edler Kern; er ist entschieden der beste in der jäm¬
merlichen Gesellschaft, in der er sich bewegt, und wir verlangen von dem Dichter,
daß etwas von diesem Gefühl einer wenn auch nur relativen Anerkennung durch
seinen Humor durchschimmert. -- Eine sehr glänzende Leistung innerhalb dieses
Kreises ist uoch eine Nebenperson, der Agent der geheimen Polizei.

Wenden wir uus nun zu der dritten Gruppe, die zwischen deu beide" Haupt¬
partien des Romans gleichsam vermitteln und uns durch ihre Tugend über die
Schlechtigkeit der übrigen Welt trösten soll, so müssen wir offen gestehen, daß sie
uns als die verfehlteste erscheint. Miß Snmmerson ist eine von den Lieblings¬
figuren unsres Dichters, die reine Unschuld, die durch ihre Liebenswürdigkeit auch
die schlimmsten Verhältnisse überwindet, die aller Welt Liebe einflößt, sich für alle
Welt aufopfert und" nichts verlangt als alle Menschen glücklich zu machen. Am mei¬
sten ist dem Dichter dies Vorhaben in der kleinen Ruth, der Schwester des Tom
Pirch gelungen. 'In dem letzten Roman dagegen ist er auf den ganz unbegreif¬
lichen Einfall gekommen, die Heldin über ihre Naivetät und uuschuldsvolle Lie¬
benswürdigkeit Buch führen zu lassen, sie gibt uns eine Art von Tagebuch, in dem


ihn zu bitten, es einen Tag früher zu thun. Da hört doch aller Menschen¬
verstand auf. Und das alles geschieht nur, um die Lady in einem Augenblicke
in das Haus des Advocaten zu bringen, wo dieser ermordet wird, und so auch
noch den Verdacht des Mordes ans sie zu lenken. Auf diese Weise mit seinen
Figuren umzugehen, um den Schicksalsknoten zu verwirren, als ob sie Draht¬
puppen wären, ist unerlaubt. Zum Schluß macht sie bei dem schrecklichsten Wetter,
halb entblößt, sie, die feine Weltdame, eine lange Fußreise, um — auf einem
schmuizigeu Kirchhof zu verfaulen. Das ist unter allen möglichen Uuwahrscheinlich-
keiten die größte, und zeigt handgreiflich, daß die Gewalt der Stimmung sich voll¬
ständig des Dichters bemeistert und ihm alle Ueberlegung genommen hat. — Noch
unbegreiflicher ist uns das Benehmen des Advocaten. Er ist allerdings ein Ori¬
ginal, ein zugeknöpfter Mensch, wie Herr Carter, der es nicht liebt, seine Beweg¬
gründe der Welt mitzutheilen, aber grade bei solchen Charakteren hat der Dichter
die Aufgabe, uus das Verborgene zu enthüllen, wenigstens müssen wir auf eine
Spur geleitet werden, auf der wir uus ein Verständniß erwerben können. Car-
ters Benehmen war zwar ebenso excentrisch wie seine Absicht, aber es war doch
eine Absicht da, man konnte sich eine Regel abstrahiren. Bei Tülkinghoru da¬
gegen haben wir auch uicht die entfernteste Ahnung, was er eigentlich will. Die
Art und Weise, wie er die Lady behandelt, ist so ungewöhnlich, daß nur sehr
stark hervorgehobene psychologische Motive sie rechtfertigen könnten; aber so aus
allem Zusammenhang gerissen, erscheint sie uns nur absurd. — Die beste Figur
in dieser Gruppe ist unzweifelhaft der Baronet, ein mit großer sinnlicher Wahr¬
heit angeschauter Charakter, bei dem wir nur eine etwas feinere Färbung wünsch¬
ten, wie sie Walter Scott in ähnlichen Fällen anwendet. Denn in diesem eiteln
Thoren ist ein sehr guter, edler Kern; er ist entschieden der beste in der jäm¬
merlichen Gesellschaft, in der er sich bewegt, und wir verlangen von dem Dichter,
daß etwas von diesem Gefühl einer wenn auch nur relativen Anerkennung durch
seinen Humor durchschimmert. — Eine sehr glänzende Leistung innerhalb dieses
Kreises ist uoch eine Nebenperson, der Agent der geheimen Polizei.

Wenden wir uus nun zu der dritten Gruppe, die zwischen deu beide» Haupt¬
partien des Romans gleichsam vermitteln und uns durch ihre Tugend über die
Schlechtigkeit der übrigen Welt trösten soll, so müssen wir offen gestehen, daß sie
uns als die verfehlteste erscheint. Miß Snmmerson ist eine von den Lieblings¬
figuren unsres Dichters, die reine Unschuld, die durch ihre Liebenswürdigkeit auch
die schlimmsten Verhältnisse überwindet, die aller Welt Liebe einflößt, sich für alle
Welt aufopfert und" nichts verlangt als alle Menschen glücklich zu machen. Am mei¬
sten ist dem Dichter dies Vorhaben in der kleinen Ruth, der Schwester des Tom
Pirch gelungen. 'In dem letzten Roman dagegen ist er auf den ganz unbegreif¬
lichen Einfall gekommen, die Heldin über ihre Naivetät und uuschuldsvolle Lie¬
benswürdigkeit Buch führen zu lassen, sie gibt uns eine Art von Tagebuch, in dem


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[0192] ihn zu bitten, es einen Tag früher zu thun. Da hört doch aller Menschen¬ verstand auf. Und das alles geschieht nur, um die Lady in einem Augenblicke in das Haus des Advocaten zu bringen, wo dieser ermordet wird, und so auch noch den Verdacht des Mordes ans sie zu lenken. Auf diese Weise mit seinen Figuren umzugehen, um den Schicksalsknoten zu verwirren, als ob sie Draht¬ puppen wären, ist unerlaubt. Zum Schluß macht sie bei dem schrecklichsten Wetter, halb entblößt, sie, die feine Weltdame, eine lange Fußreise, um — auf einem schmuizigeu Kirchhof zu verfaulen. Das ist unter allen möglichen Uuwahrscheinlich- keiten die größte, und zeigt handgreiflich, daß die Gewalt der Stimmung sich voll¬ ständig des Dichters bemeistert und ihm alle Ueberlegung genommen hat. — Noch unbegreiflicher ist uns das Benehmen des Advocaten. Er ist allerdings ein Ori¬ ginal, ein zugeknöpfter Mensch, wie Herr Carter, der es nicht liebt, seine Beweg¬ gründe der Welt mitzutheilen, aber grade bei solchen Charakteren hat der Dichter die Aufgabe, uus das Verborgene zu enthüllen, wenigstens müssen wir auf eine Spur geleitet werden, auf der wir uus ein Verständniß erwerben können. Car- ters Benehmen war zwar ebenso excentrisch wie seine Absicht, aber es war doch eine Absicht da, man konnte sich eine Regel abstrahiren. Bei Tülkinghoru da¬ gegen haben wir auch uicht die entfernteste Ahnung, was er eigentlich will. Die Art und Weise, wie er die Lady behandelt, ist so ungewöhnlich, daß nur sehr stark hervorgehobene psychologische Motive sie rechtfertigen könnten; aber so aus allem Zusammenhang gerissen, erscheint sie uns nur absurd. — Die beste Figur in dieser Gruppe ist unzweifelhaft der Baronet, ein mit großer sinnlicher Wahr¬ heit angeschauter Charakter, bei dem wir nur eine etwas feinere Färbung wünsch¬ ten, wie sie Walter Scott in ähnlichen Fällen anwendet. Denn in diesem eiteln Thoren ist ein sehr guter, edler Kern; er ist entschieden der beste in der jäm¬ merlichen Gesellschaft, in der er sich bewegt, und wir verlangen von dem Dichter, daß etwas von diesem Gefühl einer wenn auch nur relativen Anerkennung durch seinen Humor durchschimmert. — Eine sehr glänzende Leistung innerhalb dieses Kreises ist uoch eine Nebenperson, der Agent der geheimen Polizei. Wenden wir uus nun zu der dritten Gruppe, die zwischen deu beide» Haupt¬ partien des Romans gleichsam vermitteln und uns durch ihre Tugend über die Schlechtigkeit der übrigen Welt trösten soll, so müssen wir offen gestehen, daß sie uns als die verfehlteste erscheint. Miß Snmmerson ist eine von den Lieblings¬ figuren unsres Dichters, die reine Unschuld, die durch ihre Liebenswürdigkeit auch die schlimmsten Verhältnisse überwindet, die aller Welt Liebe einflößt, sich für alle Welt aufopfert und" nichts verlangt als alle Menschen glücklich zu machen. Am mei¬ sten ist dem Dichter dies Vorhaben in der kleinen Ruth, der Schwester des Tom Pirch gelungen. 'In dem letzten Roman dagegen ist er auf den ganz unbegreif¬ lichen Einfall gekommen, die Heldin über ihre Naivetät und uuschuldsvolle Lie¬ benswürdigkeit Buch führen zu lassen, sie gibt uns eine Art von Tagebuch, in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/192>, abgerufen am 22.07.2024.