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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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dem Leser sehr erschwert, den Gemüthsbewegungen der Einzelnen zu folgen, sie
mit ihren Schicksalen und ihrer Lage in Einklang zu setzen. Allein man fühlte
doch wenigstens ungefähr den Zusammenhcrng zwischen Ursache und Wirkung
heraus, und so seltsam auch zuweilen die Handlungsweise erscheinen mußte, es war
doch immer Ziel und Absicht dabei. In dem Verhältniß zwischen Sir Leicester
Dedlock, seiner Gemahlin und dem Advocaten Tulkinghorn dagegen sind uns
alle Motive räthselhaft. Es ist schon an und für sich eine schwierige, wenn auch
sehr beliebte Methode, die Vorgeschichte eines Menschen in der Form eines
Processes allmälig ans Tageslicht zu bringen. Wenn wir diese Vorgeschichte mit
dem, was wir von dem Menschen sehen, in Zusammenhang bringen wollen, so
müssen uns wenigstens die Motive sehr genau versinnlicht werden. Lady Dedlock
ist eine von jenen Frauen, deren Charakter lediglich der Reflexion entnommen
ist. Wie die stolze Weltdame, welche in der guten Gesellschaft den Ton angibt
und ihren schwachen, wenn auch stolzen Mann wie einen Sklaven beherrscht, in
ihrer Jugend so ganz wunderbare Verhältnisse hat eingehen können, das müßte
uns wenigstens durch einige bestimmtere Züge deutlich gemacht werden. Lady
Dedlock hat vor ihrer Vermählung ein Kind gehabt, sie hat dies Verhältniß
ihrem Gemahl verschwiegen und es wird nun durch die Intrigue eines Advocaten
allmälig ans Tageslicht gebracht. Wie groß ihr inneres Schuldbewußtsein wegen
dieses Umstandes sein mußte, darüber könnten wir uns mir dann ein Urtheil
bilden, wenn uns vou jenem früheren Verhältniß eine lebendige Anschauung
gegeben wäre. Die bloße Furcht vor der äußeren Schande konnte ein so ganz
seltsames Verfahren nicht motiviren. Trotz der Prüderie der englischen Literatur
kommen in den höheren Kreisen der Gesellschaft eben solche Dinge vor, wie in
Paris, und die rontinirte Weltdame mußte in ihrem persönlichen Uebergewicht über
ihren Mann, wie in ihren äußeren Mitteln Gelegenheit genug finden, um die
Sache ins Gleiche zu bringen. Ein offnes Wort gegen ihren Mann, vor dem
sie, wie sie uns geschildert ist, nicht einmal sehr zu erröthen brauchte, da sie ihn so
ganz übersieht und so unendlich geringschätzt, hätte der künstlichen Verwickelung ein
Ende gemacht. Ein verzweifelter Entschluß wäre nur dann erklärlich gewesen,
wenn die Enthüllung sie unerwartet überrascht und dadurch ihr Gemüth in Ver¬
wirrung gesetzt hätte. Aber sie durchschaut die Intrigue vom ersten Augenblick
an; sie weiß alle-Mittel und Wege ihrer Gegner, sie hat vollkommen Zeit zur
ruhigen Ueberlegung und zum Handeln, und trotzdem läßt sie willenlos alles über
sich ergehen, ja sie läßt sich von dem Advocaten, dem ergebenen Knechte ihrer
Familie, den sie dnrch ein Wort an ihren Mann zu Boden schlagen konnte, auf
das gröblichste mißhandeln. Die Unwahrscheinlichkeit und Unbegreiflichkeit einer
solchen Handlungsweise steigert sich mit jedem Moment. Der Advocat erklärt
ihr, er wolle in einigen Tagen ihre Schuld ihrem Manne anzeigen, sie macht
einen nächtlichen Spaziergang, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen und --


dem Leser sehr erschwert, den Gemüthsbewegungen der Einzelnen zu folgen, sie
mit ihren Schicksalen und ihrer Lage in Einklang zu setzen. Allein man fühlte
doch wenigstens ungefähr den Zusammenhcrng zwischen Ursache und Wirkung
heraus, und so seltsam auch zuweilen die Handlungsweise erscheinen mußte, es war
doch immer Ziel und Absicht dabei. In dem Verhältniß zwischen Sir Leicester
Dedlock, seiner Gemahlin und dem Advocaten Tulkinghorn dagegen sind uns
alle Motive räthselhaft. Es ist schon an und für sich eine schwierige, wenn auch
sehr beliebte Methode, die Vorgeschichte eines Menschen in der Form eines
Processes allmälig ans Tageslicht zu bringen. Wenn wir diese Vorgeschichte mit
dem, was wir von dem Menschen sehen, in Zusammenhang bringen wollen, so
müssen uns wenigstens die Motive sehr genau versinnlicht werden. Lady Dedlock
ist eine von jenen Frauen, deren Charakter lediglich der Reflexion entnommen
ist. Wie die stolze Weltdame, welche in der guten Gesellschaft den Ton angibt
und ihren schwachen, wenn auch stolzen Mann wie einen Sklaven beherrscht, in
ihrer Jugend so ganz wunderbare Verhältnisse hat eingehen können, das müßte
uns wenigstens durch einige bestimmtere Züge deutlich gemacht werden. Lady
Dedlock hat vor ihrer Vermählung ein Kind gehabt, sie hat dies Verhältniß
ihrem Gemahl verschwiegen und es wird nun durch die Intrigue eines Advocaten
allmälig ans Tageslicht gebracht. Wie groß ihr inneres Schuldbewußtsein wegen
dieses Umstandes sein mußte, darüber könnten wir uns mir dann ein Urtheil
bilden, wenn uns vou jenem früheren Verhältniß eine lebendige Anschauung
gegeben wäre. Die bloße Furcht vor der äußeren Schande konnte ein so ganz
seltsames Verfahren nicht motiviren. Trotz der Prüderie der englischen Literatur
kommen in den höheren Kreisen der Gesellschaft eben solche Dinge vor, wie in
Paris, und die rontinirte Weltdame mußte in ihrem persönlichen Uebergewicht über
ihren Mann, wie in ihren äußeren Mitteln Gelegenheit genug finden, um die
Sache ins Gleiche zu bringen. Ein offnes Wort gegen ihren Mann, vor dem
sie, wie sie uns geschildert ist, nicht einmal sehr zu erröthen brauchte, da sie ihn so
ganz übersieht und so unendlich geringschätzt, hätte der künstlichen Verwickelung ein
Ende gemacht. Ein verzweifelter Entschluß wäre nur dann erklärlich gewesen,
wenn die Enthüllung sie unerwartet überrascht und dadurch ihr Gemüth in Ver¬
wirrung gesetzt hätte. Aber sie durchschaut die Intrigue vom ersten Augenblick
an; sie weiß alle-Mittel und Wege ihrer Gegner, sie hat vollkommen Zeit zur
ruhigen Ueberlegung und zum Handeln, und trotzdem läßt sie willenlos alles über
sich ergehen, ja sie läßt sich von dem Advocaten, dem ergebenen Knechte ihrer
Familie, den sie dnrch ein Wort an ihren Mann zu Boden schlagen konnte, auf
das gröblichste mißhandeln. Die Unwahrscheinlichkeit und Unbegreiflichkeit einer
solchen Handlungsweise steigert sich mit jedem Moment. Der Advocat erklärt
ihr, er wolle in einigen Tagen ihre Schuld ihrem Manne anzeigen, sie macht
einen nächtlichen Spaziergang, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen und —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/191>, abgerufen am 22.07.2024.