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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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sie alle Züge ihrer schönen Seele erzählt, indem sie schildert, wie alle Menschen
sie lieb haben und immer sehr bescheiden hinzusetzt, sie verdiene es gar nicht, sie
sei doch eigentlich gar zu unbedeutend u. s. w. Ein solcher Act von fortgesetzter
Naivetät ist gradezu unerträglich. Aber auch abgesehen davon, ist es schon ein
alter Satz, daß man den Werth der Tugend nur nach der Gewalt der Natur
abmessen kann, die sie zu überwinden hat. Eine solche Natur scheint aber in
dem guten Mädchen gar nicht vorhanden zu sein; sie ist eitel Liebe und Güte,
sie hat kein Fleisch und Blut. Ihre Resignation in Beziehung auf alle möglichen
Empfindungen, die das Glück des Menschen ausmachen, grenzt nahe an Stumpf¬
sinn. Es ist nicht zu leugnen, daß Dickens durch Uebertreibung seiner Moral
öfters in eine solche Caricatur verfällt. Nebenbei dürfte man auch wol vom
künstlerischen Gesichtspunkt verlangen, daß ein Weib, welches in einen so mäch¬
tigen Kreis gewaltiger Leidenschaften gerissen wird, durch ihre Natur einiger¬
maßen ihrem Verhängniß entgegenkommt. Wenn wir auch nicht glauben, daß
aus jedem wilden Liebesverhältniß wildes Blut hervorgeht, so scheint uus doch
nothwendig, daß der Künstler der Natur zu Hilfe kommt. Das Kind einer starken
Leidenschaft und einer schweren Schuld, von der frühesten Kindheit auf mit dem
Gedanken dieser Schuld gequält und gemartert, muß wenigstens etwas heißes
Blut in seinen Adern tragen. -- Noch viel schlechter als Esther Snmerson ist
ihr Vormund, Jarndyce, gezeichnet. Von dieser incarnirten Wohlthätigkeit können
wir uns keinen Begriff machen; es ist ein ganz physiognomieloscr Schemen
der Reflexion. Selbst die kleine humoristische Färbung, die Dickens dieser
menschgewordenen Tugend gegeben hat, hilft uns nichts, denn sie ist nnr äußer¬
lich aufgetragene Schminke. Am schlimmsten ist es aber, daß diese vermeintliche
Tugend aus- einer ganz kritiklosen Gutherzigkeit beruht. Der Umgang des Herrn
Jarndyce ist sehr zweideutiger Natur. Es scheint, als ob er sich die schlechtesten,
erbärmlichsten und langweiligsten Menschen von der Welt ausgesucht habe, um
seine Wohlthätigkeit an ihnen auszuüben. Wir wollen hier die Damen Jellyby
und Pardiggle gar uicht vorführen, uns genügt der würdige Skimpvle. Daß
ein junger in der Einsamkeit aufgewachsener Träumer, wie Tom Pirch, sich von
einem routinirtcn Heuchler täuschen läßt, fällt uns zwar schon sehr schwer zu be¬
greifen, aber wir können es uns doch wenigstens einigermaßen erklären. Aber
daß ein bejahrter, in den Geschäften der Welt vielfach bewanderter Mann, der
"och dazu durch sehr eruste Schicksale wol darauf hätte hingeführt werden sollen,
das Leben mit Nachdenken und Ueberlegung zu betrachte", einem solchen Wicht,
dem einfältigsten Gauner von der Welt, sein Vertrauen schenkt, ja ihn als seinen
Busenfreund hegt, das macht nicht blos seinen Verstand, sondern auch sein Herz
verdächtig; deun ohne jenen moralisch ästhetischen Jnstinct, der ohne weitere -Re¬
flexion zwischen dem Guten und Schlechten einen Unterschied macht, ist von der
Tugend nicht viel Rühmens zu machen. Nebenbei hat Herr Jarndyce ebensowenig


Grenzboten. I. 18si'. 2i

sie alle Züge ihrer schönen Seele erzählt, indem sie schildert, wie alle Menschen
sie lieb haben und immer sehr bescheiden hinzusetzt, sie verdiene es gar nicht, sie
sei doch eigentlich gar zu unbedeutend u. s. w. Ein solcher Act von fortgesetzter
Naivetät ist gradezu unerträglich. Aber auch abgesehen davon, ist es schon ein
alter Satz, daß man den Werth der Tugend nur nach der Gewalt der Natur
abmessen kann, die sie zu überwinden hat. Eine solche Natur scheint aber in
dem guten Mädchen gar nicht vorhanden zu sein; sie ist eitel Liebe und Güte,
sie hat kein Fleisch und Blut. Ihre Resignation in Beziehung auf alle möglichen
Empfindungen, die das Glück des Menschen ausmachen, grenzt nahe an Stumpf¬
sinn. Es ist nicht zu leugnen, daß Dickens durch Uebertreibung seiner Moral
öfters in eine solche Caricatur verfällt. Nebenbei dürfte man auch wol vom
künstlerischen Gesichtspunkt verlangen, daß ein Weib, welches in einen so mäch¬
tigen Kreis gewaltiger Leidenschaften gerissen wird, durch ihre Natur einiger¬
maßen ihrem Verhängniß entgegenkommt. Wenn wir auch nicht glauben, daß
aus jedem wilden Liebesverhältniß wildes Blut hervorgeht, so scheint uus doch
nothwendig, daß der Künstler der Natur zu Hilfe kommt. Das Kind einer starken
Leidenschaft und einer schweren Schuld, von der frühesten Kindheit auf mit dem
Gedanken dieser Schuld gequält und gemartert, muß wenigstens etwas heißes
Blut in seinen Adern tragen. — Noch viel schlechter als Esther Snmerson ist
ihr Vormund, Jarndyce, gezeichnet. Von dieser incarnirten Wohlthätigkeit können
wir uns keinen Begriff machen; es ist ein ganz physiognomieloscr Schemen
der Reflexion. Selbst die kleine humoristische Färbung, die Dickens dieser
menschgewordenen Tugend gegeben hat, hilft uns nichts, denn sie ist nnr äußer¬
lich aufgetragene Schminke. Am schlimmsten ist es aber, daß diese vermeintliche
Tugend aus- einer ganz kritiklosen Gutherzigkeit beruht. Der Umgang des Herrn
Jarndyce ist sehr zweideutiger Natur. Es scheint, als ob er sich die schlechtesten,
erbärmlichsten und langweiligsten Menschen von der Welt ausgesucht habe, um
seine Wohlthätigkeit an ihnen auszuüben. Wir wollen hier die Damen Jellyby
und Pardiggle gar uicht vorführen, uns genügt der würdige Skimpvle. Daß
ein junger in der Einsamkeit aufgewachsener Träumer, wie Tom Pirch, sich von
einem routinirtcn Heuchler täuschen läßt, fällt uns zwar schon sehr schwer zu be¬
greifen, aber wir können es uns doch wenigstens einigermaßen erklären. Aber
daß ein bejahrter, in den Geschäften der Welt vielfach bewanderter Mann, der
»och dazu durch sehr eruste Schicksale wol darauf hätte hingeführt werden sollen,
das Leben mit Nachdenken und Ueberlegung zu betrachte«, einem solchen Wicht,
dem einfältigsten Gauner von der Welt, sein Vertrauen schenkt, ja ihn als seinen
Busenfreund hegt, das macht nicht blos seinen Verstand, sondern auch sein Herz
verdächtig; deun ohne jenen moralisch ästhetischen Jnstinct, der ohne weitere -Re¬
flexion zwischen dem Guten und Schlechten einen Unterschied macht, ist von der
Tugend nicht viel Rühmens zu machen. Nebenbei hat Herr Jarndyce ebensowenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/193>, abgerufen am 22.07.2024.