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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Zügel schießen ließ und die seltsamsten Entdeckungen machte. Es ist uns die¬
ser Unterschied unter andern im Anfang des Othello aufgefallen; indessen
können wir doch nicht verhehlen, daß wir hin und wieder ein ausführlicheres
Eingehen auf das Sachliche gewünscht hätten, theils in Beziehung auf die
theatralischen Verhältnisse, theils auf den Inhalt der Geschichte, die bei
Shakspeare und namentlich in den drei vorliegenden Stücken im einzelnen zu¬
weilen sehr leichtfertig behandelt ist. Ueber den Othello sind in den letzten
Jahren in den englischen Journalen sehr interessante Auseinandersetzungen er¬
schienen, worin z. B. nachgewiesen wurde, daß Shakspeare eine doppelte Zeit¬
rechnung befolgt, aber das Publicum darüber täuscht, indem einmal die Hand¬
lung in ununterbrochener Continuität fortgeht und nicht mehr als zwei Tage
und zwei Nächte umfaßt, andrerseits aber wieder Voraussetzungen gemacht
werden, nach denen wenigstens der Zeitraum eines halben Jahres berechnet
werden müßte. Es ist schade, daß Delius nicht näher darauf eingegangen
ist. Die Erklärung, die Tieck von der angeregten Stelle gibt:


vns Uiebülll Lnssio, u I^loieiUinv,
^ tollow "Imost cluiuii'ä in u t'uir wilo,

ist gewiß unhaltbar, aber die Erklärung von Delius hat uns auch nicht
überzeugt. Daß hier von Bianca die Rede sein soll, stimmt mit der folgenden
Geschichte nicht überein und ist auch nach dem Zusammenhang der Stelle
nicht glaublich. Nach unsrer Meinung hätte Herr Delius grade diese Fragen
aufmerksamer betrachten sollen, da von der deutschen Kritik darin noch gar
nichts geleistet ist. Ueberhaupt werden wir von der Einbildung, die deutsche
Kritik hätte für Shakspeare mehr gethan, als die englische, wol immer mehr
zurückkommen. Metaphysisch und moralisch haben wir über den Dichter un¬
endlich viel zu Tage gefördert, aber in Beziehung auf die philologische, sprach¬
liche und sachliche Erklärung müssen wir doch immer wieder auf die Engländer
zurückgehen.

Wir müssen bei jenen Ausstellungen allerdings in Erwägung ziehen, daß
hier von unsrer Seite auch subjective Wünsche obwalten, und daß man von
keinem Herausgeber verlangen kann, er solle allen derartigen Wünschen Rech¬
nung tragen. Herr Delius hat seine Ausgabe nicht blos für Deutschland be¬
rechnet, und seinen Hauptzweck, die eigentliche Kritik, hat er auf eine würdige
Weise erfüllt. Allein wir glauben doch mit dem Wunsch, daß in den folgenden
Stücken auf jene beiden Seiten mehr Rücksicht genommen würde, zugleich die
Gesinnung des größern Theils im deutschen Publicum auszusprechen; denn je
weniger es uns aus unsrem wirklichen Theater gelingen wird, die Werke des
Dichters so aufzuführen, wie er sie sich gedacht, um so wünschenswerther muß
es für uns sein, wenigstens eine Vorstellung davon zu erlangen, und ein so


Zügel schießen ließ und die seltsamsten Entdeckungen machte. Es ist uns die¬
ser Unterschied unter andern im Anfang des Othello aufgefallen; indessen
können wir doch nicht verhehlen, daß wir hin und wieder ein ausführlicheres
Eingehen auf das Sachliche gewünscht hätten, theils in Beziehung auf die
theatralischen Verhältnisse, theils auf den Inhalt der Geschichte, die bei
Shakspeare und namentlich in den drei vorliegenden Stücken im einzelnen zu¬
weilen sehr leichtfertig behandelt ist. Ueber den Othello sind in den letzten
Jahren in den englischen Journalen sehr interessante Auseinandersetzungen er¬
schienen, worin z. B. nachgewiesen wurde, daß Shakspeare eine doppelte Zeit¬
rechnung befolgt, aber das Publicum darüber täuscht, indem einmal die Hand¬
lung in ununterbrochener Continuität fortgeht und nicht mehr als zwei Tage
und zwei Nächte umfaßt, andrerseits aber wieder Voraussetzungen gemacht
werden, nach denen wenigstens der Zeitraum eines halben Jahres berechnet
werden müßte. Es ist schade, daß Delius nicht näher darauf eingegangen
ist. Die Erklärung, die Tieck von der angeregten Stelle gibt:


vns Uiebülll Lnssio, u I^loieiUinv,
^ tollow »Imost cluiuii'ä in u t'uir wilo,

ist gewiß unhaltbar, aber die Erklärung von Delius hat uns auch nicht
überzeugt. Daß hier von Bianca die Rede sein soll, stimmt mit der folgenden
Geschichte nicht überein und ist auch nach dem Zusammenhang der Stelle
nicht glaublich. Nach unsrer Meinung hätte Herr Delius grade diese Fragen
aufmerksamer betrachten sollen, da von der deutschen Kritik darin noch gar
nichts geleistet ist. Ueberhaupt werden wir von der Einbildung, die deutsche
Kritik hätte für Shakspeare mehr gethan, als die englische, wol immer mehr
zurückkommen. Metaphysisch und moralisch haben wir über den Dichter un¬
endlich viel zu Tage gefördert, aber in Beziehung auf die philologische, sprach¬
liche und sachliche Erklärung müssen wir doch immer wieder auf die Engländer
zurückgehen.

Wir müssen bei jenen Ausstellungen allerdings in Erwägung ziehen, daß
hier von unsrer Seite auch subjective Wünsche obwalten, und daß man von
keinem Herausgeber verlangen kann, er solle allen derartigen Wünschen Rech¬
nung tragen. Herr Delius hat seine Ausgabe nicht blos für Deutschland be¬
rechnet, und seinen Hauptzweck, die eigentliche Kritik, hat er auf eine würdige
Weise erfüllt. Allein wir glauben doch mit dem Wunsch, daß in den folgenden
Stücken auf jene beiden Seiten mehr Rücksicht genommen würde, zugleich die
Gesinnung des größern Theils im deutschen Publicum auszusprechen; denn je
weniger es uns aus unsrem wirklichen Theater gelingen wird, die Werke des
Dichters so aufzuführen, wie er sie sich gedacht, um so wünschenswerther muß
es für uns sein, wenigstens eine Vorstellung davon zu erlangen, und ein so


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[0514] Zügel schießen ließ und die seltsamsten Entdeckungen machte. Es ist uns die¬ ser Unterschied unter andern im Anfang des Othello aufgefallen; indessen können wir doch nicht verhehlen, daß wir hin und wieder ein ausführlicheres Eingehen auf das Sachliche gewünscht hätten, theils in Beziehung auf die theatralischen Verhältnisse, theils auf den Inhalt der Geschichte, die bei Shakspeare und namentlich in den drei vorliegenden Stücken im einzelnen zu¬ weilen sehr leichtfertig behandelt ist. Ueber den Othello sind in den letzten Jahren in den englischen Journalen sehr interessante Auseinandersetzungen er¬ schienen, worin z. B. nachgewiesen wurde, daß Shakspeare eine doppelte Zeit¬ rechnung befolgt, aber das Publicum darüber täuscht, indem einmal die Hand¬ lung in ununterbrochener Continuität fortgeht und nicht mehr als zwei Tage und zwei Nächte umfaßt, andrerseits aber wieder Voraussetzungen gemacht werden, nach denen wenigstens der Zeitraum eines halben Jahres berechnet werden müßte. Es ist schade, daß Delius nicht näher darauf eingegangen ist. Die Erklärung, die Tieck von der angeregten Stelle gibt: vns Uiebülll Lnssio, u I^loieiUinv, ^ tollow »Imost cluiuii'ä in u t'uir wilo, ist gewiß unhaltbar, aber die Erklärung von Delius hat uns auch nicht überzeugt. Daß hier von Bianca die Rede sein soll, stimmt mit der folgenden Geschichte nicht überein und ist auch nach dem Zusammenhang der Stelle nicht glaublich. Nach unsrer Meinung hätte Herr Delius grade diese Fragen aufmerksamer betrachten sollen, da von der deutschen Kritik darin noch gar nichts geleistet ist. Ueberhaupt werden wir von der Einbildung, die deutsche Kritik hätte für Shakspeare mehr gethan, als die englische, wol immer mehr zurückkommen. Metaphysisch und moralisch haben wir über den Dichter un¬ endlich viel zu Tage gefördert, aber in Beziehung auf die philologische, sprach¬ liche und sachliche Erklärung müssen wir doch immer wieder auf die Engländer zurückgehen. Wir müssen bei jenen Ausstellungen allerdings in Erwägung ziehen, daß hier von unsrer Seite auch subjective Wünsche obwalten, und daß man von keinem Herausgeber verlangen kann, er solle allen derartigen Wünschen Rech¬ nung tragen. Herr Delius hat seine Ausgabe nicht blos für Deutschland be¬ rechnet, und seinen Hauptzweck, die eigentliche Kritik, hat er auf eine würdige Weise erfüllt. Allein wir glauben doch mit dem Wunsch, daß in den folgenden Stücken auf jene beiden Seiten mehr Rücksicht genommen würde, zugleich die Gesinnung des größern Theils im deutschen Publicum auszusprechen; denn je weniger es uns aus unsrem wirklichen Theater gelingen wird, die Werke des Dichters so aufzuführen, wie er sie sich gedacht, um so wünschenswerther muß es für uns sein, wenigstens eine Vorstellung davon zu erlangen, und ein so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/514>, abgerufen am 22.07.2024.