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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Corespondent gelegentlich davon unterrichten), was aber das Princip des
Protestantismus betrifft, so kennen wir in neuester Zeit wenig Schriftsteller, die
es mit soviel Wärme und Einsicht vertreten. Das Novemberheft jener Revue
bringt einen neuen Aufsatz von ihm "über den Wilden der Civilisation", der
wieder einige sehr interessante Streiflichter auf das Verhältniß der Religion zu
den socialen Einrichtungen wirft. Nachdem er das schreckliche Anwachsen einer
durch und durch entsittlichten Pöbelmasse geschildert und nachgewiesen hat, wie
wenig gegen dieses Uebel die kleinen Mittel der innern Mission helfen, die
man bisher angewendet hat, fährt er folgendermaßen fort: "Nur die Arbeit,
die gezwungene, ununterbrochene Arbeit, mit einem bestimmten, nicht sehr
wechselnden Lohn kann diese unglückselige Bevölkerung wieder zur Sittlichkeit
zurückführen. Die Religion hat keinen, Einfluß auf sie, am wenigsten der
Protestantismus. Der Protestantismus ist seiner Natur nach für das-Volk,
aber nicht für den Pöbel. Zwar läßt er eine ziemlich große Verschiedenheit
der Meinungen, des Glaubens und des Charakters zu, aber es gibt auch sehr
umfassende Kategorien, die er unbedingt ausschließt. Sein Rechtsgefühl ist
lebhafter als seine Barmherzigkeit, und wie sein Katechismus die Prädestination
enthält, so gibt es auch im Leben für ihn Parias, die er von sich stoßt, selbst
wenn er ihnen Worte des Friedens entgegenbringt. Der Protestantismus ist
wesentlich die' Religion des ehrlichen Mannes, des soliden Pächters, des
naturkräftigen Neoman, des tugendhaften Squire, die Religion des Familien¬
vaters und des Bürgers, vortrefflich für alle diejenigen, welche eine gesell¬
schaftliche Pflicht zu erfüllen haben, die im Schwurgericht, in den Wahlen, in
der Gemeinde sich am Staatsleben betheiligen; aber er hat keinen Trost für
diejenigen, welche die Beute des Bösen und der Spielball Satans geworden
sind. Wenn sie sich nicht bekehren wollen, oder es nicht können, so mögen sie
in ihrer zeitlichen Verdammung verharren, indem sie die ewige Verdammniß
erwarten, die ihnen vorbehalten ist. Der Katholicismus handelt auf eine ganz
entgegengesetzte Art, und es ist merkwürdig, daß er die einzige Religion ist, die
den Pöbel zu benutzen verstanden hat. Der Pöbel wird durch sie nicht be¬
kehrt, nicht bereichert, nicht arbeitsamer, nicht tugendhafter gemacht; aber er wird
getröstet und unschädlich, man reißt ihm die giftigen Zähne aus und beschneidet
ihm seine schrecklichen Klauen. Der Katholicismus hat sür den Bettler eine
unerschöpfliche Fundgrube von Hoffnungen; er hat Heiligenbilder, Rosenkränze,
Kreuze, Amulete: ein süßes Opium, den Schmerz einzuschläfern und das Leben
der Elenden mit schönen Träumen zu bevölkern. Darum wird der Katholicis¬
mus zu allen Zeiten die Lieblingsreligion sür die beiden elendesten Classen der
menschlichen Gesellschaft sein: in den Tiefen der Gesellschaft die Religion der
Armen, deren Loos unwiderruflich und denen jede zeitliche Hoffnung ver¬
schlossen ist; auf den glänzenden Höhen der Welt die Religion der Menschen,


Corespondent gelegentlich davon unterrichten), was aber das Princip des
Protestantismus betrifft, so kennen wir in neuester Zeit wenig Schriftsteller, die
es mit soviel Wärme und Einsicht vertreten. Das Novemberheft jener Revue
bringt einen neuen Aufsatz von ihm „über den Wilden der Civilisation", der
wieder einige sehr interessante Streiflichter auf das Verhältniß der Religion zu
den socialen Einrichtungen wirft. Nachdem er das schreckliche Anwachsen einer
durch und durch entsittlichten Pöbelmasse geschildert und nachgewiesen hat, wie
wenig gegen dieses Uebel die kleinen Mittel der innern Mission helfen, die
man bisher angewendet hat, fährt er folgendermaßen fort: „Nur die Arbeit,
die gezwungene, ununterbrochene Arbeit, mit einem bestimmten, nicht sehr
wechselnden Lohn kann diese unglückselige Bevölkerung wieder zur Sittlichkeit
zurückführen. Die Religion hat keinen, Einfluß auf sie, am wenigsten der
Protestantismus. Der Protestantismus ist seiner Natur nach für das-Volk,
aber nicht für den Pöbel. Zwar läßt er eine ziemlich große Verschiedenheit
der Meinungen, des Glaubens und des Charakters zu, aber es gibt auch sehr
umfassende Kategorien, die er unbedingt ausschließt. Sein Rechtsgefühl ist
lebhafter als seine Barmherzigkeit, und wie sein Katechismus die Prädestination
enthält, so gibt es auch im Leben für ihn Parias, die er von sich stoßt, selbst
wenn er ihnen Worte des Friedens entgegenbringt. Der Protestantismus ist
wesentlich die' Religion des ehrlichen Mannes, des soliden Pächters, des
naturkräftigen Neoman, des tugendhaften Squire, die Religion des Familien¬
vaters und des Bürgers, vortrefflich für alle diejenigen, welche eine gesell¬
schaftliche Pflicht zu erfüllen haben, die im Schwurgericht, in den Wahlen, in
der Gemeinde sich am Staatsleben betheiligen; aber er hat keinen Trost für
diejenigen, welche die Beute des Bösen und der Spielball Satans geworden
sind. Wenn sie sich nicht bekehren wollen, oder es nicht können, so mögen sie
in ihrer zeitlichen Verdammung verharren, indem sie die ewige Verdammniß
erwarten, die ihnen vorbehalten ist. Der Katholicismus handelt auf eine ganz
entgegengesetzte Art, und es ist merkwürdig, daß er die einzige Religion ist, die
den Pöbel zu benutzen verstanden hat. Der Pöbel wird durch sie nicht be¬
kehrt, nicht bereichert, nicht arbeitsamer, nicht tugendhafter gemacht; aber er wird
getröstet und unschädlich, man reißt ihm die giftigen Zähne aus und beschneidet
ihm seine schrecklichen Klauen. Der Katholicismus hat sür den Bettler eine
unerschöpfliche Fundgrube von Hoffnungen; er hat Heiligenbilder, Rosenkränze,
Kreuze, Amulete: ein süßes Opium, den Schmerz einzuschläfern und das Leben
der Elenden mit schönen Träumen zu bevölkern. Darum wird der Katholicis¬
mus zu allen Zeiten die Lieblingsreligion sür die beiden elendesten Classen der
menschlichen Gesellschaft sein: in den Tiefen der Gesellschaft die Religion der
Armen, deren Loos unwiderruflich und denen jede zeitliche Hoffnung ver¬
schlossen ist; auf den glänzenden Höhen der Welt die Religion der Menschen,


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[0423] Corespondent gelegentlich davon unterrichten), was aber das Princip des Protestantismus betrifft, so kennen wir in neuester Zeit wenig Schriftsteller, die es mit soviel Wärme und Einsicht vertreten. Das Novemberheft jener Revue bringt einen neuen Aufsatz von ihm „über den Wilden der Civilisation", der wieder einige sehr interessante Streiflichter auf das Verhältniß der Religion zu den socialen Einrichtungen wirft. Nachdem er das schreckliche Anwachsen einer durch und durch entsittlichten Pöbelmasse geschildert und nachgewiesen hat, wie wenig gegen dieses Uebel die kleinen Mittel der innern Mission helfen, die man bisher angewendet hat, fährt er folgendermaßen fort: „Nur die Arbeit, die gezwungene, ununterbrochene Arbeit, mit einem bestimmten, nicht sehr wechselnden Lohn kann diese unglückselige Bevölkerung wieder zur Sittlichkeit zurückführen. Die Religion hat keinen, Einfluß auf sie, am wenigsten der Protestantismus. Der Protestantismus ist seiner Natur nach für das-Volk, aber nicht für den Pöbel. Zwar läßt er eine ziemlich große Verschiedenheit der Meinungen, des Glaubens und des Charakters zu, aber es gibt auch sehr umfassende Kategorien, die er unbedingt ausschließt. Sein Rechtsgefühl ist lebhafter als seine Barmherzigkeit, und wie sein Katechismus die Prädestination enthält, so gibt es auch im Leben für ihn Parias, die er von sich stoßt, selbst wenn er ihnen Worte des Friedens entgegenbringt. Der Protestantismus ist wesentlich die' Religion des ehrlichen Mannes, des soliden Pächters, des naturkräftigen Neoman, des tugendhaften Squire, die Religion des Familien¬ vaters und des Bürgers, vortrefflich für alle diejenigen, welche eine gesell¬ schaftliche Pflicht zu erfüllen haben, die im Schwurgericht, in den Wahlen, in der Gemeinde sich am Staatsleben betheiligen; aber er hat keinen Trost für diejenigen, welche die Beute des Bösen und der Spielball Satans geworden sind. Wenn sie sich nicht bekehren wollen, oder es nicht können, so mögen sie in ihrer zeitlichen Verdammung verharren, indem sie die ewige Verdammniß erwarten, die ihnen vorbehalten ist. Der Katholicismus handelt auf eine ganz entgegengesetzte Art, und es ist merkwürdig, daß er die einzige Religion ist, die den Pöbel zu benutzen verstanden hat. Der Pöbel wird durch sie nicht be¬ kehrt, nicht bereichert, nicht arbeitsamer, nicht tugendhafter gemacht; aber er wird getröstet und unschädlich, man reißt ihm die giftigen Zähne aus und beschneidet ihm seine schrecklichen Klauen. Der Katholicismus hat sür den Bettler eine unerschöpfliche Fundgrube von Hoffnungen; er hat Heiligenbilder, Rosenkränze, Kreuze, Amulete: ein süßes Opium, den Schmerz einzuschläfern und das Leben der Elenden mit schönen Träumen zu bevölkern. Darum wird der Katholicis¬ mus zu allen Zeiten die Lieblingsreligion sür die beiden elendesten Classen der menschlichen Gesellschaft sein: in den Tiefen der Gesellschaft die Religion der Armen, deren Loos unwiderruflich und denen jede zeitliche Hoffnung ver¬ schlossen ist; auf den glänzenden Höhen der Welt die Religion der Menschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/423>, abgerufen am 28.09.2024.