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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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schmeißen. Der Himmel ist seit heute Morgen offenbar in übler Laune, er
hat Vapeurs, die in Nebelgestalt bis auss Pflaster herabreichen. Um drei Uhr
Nachmittag ward er plötzlich heiterer gestimmt, und ließ zwischen City und
Strand zwei große blaue Augen aus den Wolren durchsehen. Er lächelte, wie
man zu sagen pflegt (beiläufig gesagt eine sehr ungeschickte Metapher). Warum?
weiß ich nicht. Um drei Uhr schließt die Börse. Die neue türkische Anleihe
hatte eben mit zwei Procent niedriger geschlossen, Consols waren um ^ Pro¬
cent gefallen und Wiener Wechselcurse um 2 Procent schlechter geworden. Was
gabs da für einen westmächtlichen Himmel zu lächeln? Aber so wars und ich
nahm meinen Regenschirm, um einen Spaziergang zu machen.

Zufall oder Jnstinct führte mich durch Se. Martinslane. Dort ist die
Druckerei und Erpedition der officiellen London Gazette, dort ist auch ihre
Redaction, die insofern merkwürdig ist, daß sie nie eine Lüge für die Welt ge¬
macht hat, weil ihr der Stoff vollkommen fertig von der Regierung zugeschickt
wird, und daß sie trotz des fertig eingesandten Stoffes doch einen Redacteur
hat, der für die kleine Mühe, das Manuscript aus der Hand des Boten in
die Hand des Setzers zu legen, jährlich 600 Pfund Gehalt bezieht. Vor der
Druckerei stand ein dichter Menschenknäuel. Drängen, Stoßen und Schieben,
um bis zur kleinen Eingangsthür des Erpeditionsbureaus zu gelangen. Hollah!
Die angekündigte Gazette mit der Naglanschen Depesche über die Schlacht von
Inkerman war heraus. Ein Junge, der wol schon ein paar Stunden an der
Thür gelauert hat, läuft mir mit ein paar Eremplaren unter dem Arm über
den Weg. Ich halte ihn an, erbeute eines von ihm für einen Schilling und
renne damit wieder nach Hause. Der Regenschirm muß sich in die Ecke trollen;
das Schwert hat jetzt den Vortritt.

Herr Mars und Fräulein Minerva seien den Engländern gnädig und mögen
sich ihrer erbarmen! Sie haben wieder einen Sieg erfochten. 38 Offiziere
todt, über 2000 Mann kampfunfähig. Diese Depesche Raglans ist schauerlich
und glorreich wie nur irgendeine je gewesen. Wenn man sich das beengte
Terrain vorstellt, auf dem von Morgens bis Abends geschlagen wurde, und
da liest, daß die Russen allein an 3000 Mann todt zurückließen -- von den
Verwundeten gar nicht zu reden -- so ists ja kaum anders denkbar, als daß
die Leichen an gewissen Punkten, wo das Morden am heftigsten war, zu Hau¬
fen aufgeschichtet sein mußten. Der Bericht klingt fabelhaft in seiner Einfach¬
heit, sechzigtausend Russen gegen blos vierzehntausend Franzosen und Eng¬
länder! Und von diesen sechzigtausend durch diese vierzehntausend an fünf-
zehntausend kampfunfähig gemacht! Die einzelnen eingegangenen Rapporte
mögen vielleicht übertrieben haben. Lord Raglan lügt nicht. Er hat geschrie¬
ben, was ihm berichtet wurde, was er sah, was er glaubt. Es sollte mich
nicht wundern, wenn mein Nachbar, Mr. Jones, seiner Frau, der ehrenwer-


schmeißen. Der Himmel ist seit heute Morgen offenbar in übler Laune, er
hat Vapeurs, die in Nebelgestalt bis auss Pflaster herabreichen. Um drei Uhr
Nachmittag ward er plötzlich heiterer gestimmt, und ließ zwischen City und
Strand zwei große blaue Augen aus den Wolren durchsehen. Er lächelte, wie
man zu sagen pflegt (beiläufig gesagt eine sehr ungeschickte Metapher). Warum?
weiß ich nicht. Um drei Uhr schließt die Börse. Die neue türkische Anleihe
hatte eben mit zwei Procent niedriger geschlossen, Consols waren um ^ Pro¬
cent gefallen und Wiener Wechselcurse um 2 Procent schlechter geworden. Was
gabs da für einen westmächtlichen Himmel zu lächeln? Aber so wars und ich
nahm meinen Regenschirm, um einen Spaziergang zu machen.

Zufall oder Jnstinct führte mich durch Se. Martinslane. Dort ist die
Druckerei und Erpedition der officiellen London Gazette, dort ist auch ihre
Redaction, die insofern merkwürdig ist, daß sie nie eine Lüge für die Welt ge¬
macht hat, weil ihr der Stoff vollkommen fertig von der Regierung zugeschickt
wird, und daß sie trotz des fertig eingesandten Stoffes doch einen Redacteur
hat, der für die kleine Mühe, das Manuscript aus der Hand des Boten in
die Hand des Setzers zu legen, jährlich 600 Pfund Gehalt bezieht. Vor der
Druckerei stand ein dichter Menschenknäuel. Drängen, Stoßen und Schieben,
um bis zur kleinen Eingangsthür des Erpeditionsbureaus zu gelangen. Hollah!
Die angekündigte Gazette mit der Naglanschen Depesche über die Schlacht von
Inkerman war heraus. Ein Junge, der wol schon ein paar Stunden an der
Thür gelauert hat, läuft mir mit ein paar Eremplaren unter dem Arm über
den Weg. Ich halte ihn an, erbeute eines von ihm für einen Schilling und
renne damit wieder nach Hause. Der Regenschirm muß sich in die Ecke trollen;
das Schwert hat jetzt den Vortritt.

Herr Mars und Fräulein Minerva seien den Engländern gnädig und mögen
sich ihrer erbarmen! Sie haben wieder einen Sieg erfochten. 38 Offiziere
todt, über 2000 Mann kampfunfähig. Diese Depesche Raglans ist schauerlich
und glorreich wie nur irgendeine je gewesen. Wenn man sich das beengte
Terrain vorstellt, auf dem von Morgens bis Abends geschlagen wurde, und
da liest, daß die Russen allein an 3000 Mann todt zurückließen — von den
Verwundeten gar nicht zu reden — so ists ja kaum anders denkbar, als daß
die Leichen an gewissen Punkten, wo das Morden am heftigsten war, zu Hau¬
fen aufgeschichtet sein mußten. Der Bericht klingt fabelhaft in seiner Einfach¬
heit, sechzigtausend Russen gegen blos vierzehntausend Franzosen und Eng¬
länder! Und von diesen sechzigtausend durch diese vierzehntausend an fünf-
zehntausend kampfunfähig gemacht! Die einzelnen eingegangenen Rapporte
mögen vielleicht übertrieben haben. Lord Raglan lügt nicht. Er hat geschrie¬
ben, was ihm berichtet wurde, was er sah, was er glaubt. Es sollte mich
nicht wundern, wenn mein Nachbar, Mr. Jones, seiner Frau, der ehrenwer-


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[0402] schmeißen. Der Himmel ist seit heute Morgen offenbar in übler Laune, er hat Vapeurs, die in Nebelgestalt bis auss Pflaster herabreichen. Um drei Uhr Nachmittag ward er plötzlich heiterer gestimmt, und ließ zwischen City und Strand zwei große blaue Augen aus den Wolren durchsehen. Er lächelte, wie man zu sagen pflegt (beiläufig gesagt eine sehr ungeschickte Metapher). Warum? weiß ich nicht. Um drei Uhr schließt die Börse. Die neue türkische Anleihe hatte eben mit zwei Procent niedriger geschlossen, Consols waren um ^ Pro¬ cent gefallen und Wiener Wechselcurse um 2 Procent schlechter geworden. Was gabs da für einen westmächtlichen Himmel zu lächeln? Aber so wars und ich nahm meinen Regenschirm, um einen Spaziergang zu machen. Zufall oder Jnstinct führte mich durch Se. Martinslane. Dort ist die Druckerei und Erpedition der officiellen London Gazette, dort ist auch ihre Redaction, die insofern merkwürdig ist, daß sie nie eine Lüge für die Welt ge¬ macht hat, weil ihr der Stoff vollkommen fertig von der Regierung zugeschickt wird, und daß sie trotz des fertig eingesandten Stoffes doch einen Redacteur hat, der für die kleine Mühe, das Manuscript aus der Hand des Boten in die Hand des Setzers zu legen, jährlich 600 Pfund Gehalt bezieht. Vor der Druckerei stand ein dichter Menschenknäuel. Drängen, Stoßen und Schieben, um bis zur kleinen Eingangsthür des Erpeditionsbureaus zu gelangen. Hollah! Die angekündigte Gazette mit der Naglanschen Depesche über die Schlacht von Inkerman war heraus. Ein Junge, der wol schon ein paar Stunden an der Thür gelauert hat, läuft mir mit ein paar Eremplaren unter dem Arm über den Weg. Ich halte ihn an, erbeute eines von ihm für einen Schilling und renne damit wieder nach Hause. Der Regenschirm muß sich in die Ecke trollen; das Schwert hat jetzt den Vortritt. Herr Mars und Fräulein Minerva seien den Engländern gnädig und mögen sich ihrer erbarmen! Sie haben wieder einen Sieg erfochten. 38 Offiziere todt, über 2000 Mann kampfunfähig. Diese Depesche Raglans ist schauerlich und glorreich wie nur irgendeine je gewesen. Wenn man sich das beengte Terrain vorstellt, auf dem von Morgens bis Abends geschlagen wurde, und da liest, daß die Russen allein an 3000 Mann todt zurückließen — von den Verwundeten gar nicht zu reden — so ists ja kaum anders denkbar, als daß die Leichen an gewissen Punkten, wo das Morden am heftigsten war, zu Hau¬ fen aufgeschichtet sein mußten. Der Bericht klingt fabelhaft in seiner Einfach¬ heit, sechzigtausend Russen gegen blos vierzehntausend Franzosen und Eng¬ länder! Und von diesen sechzigtausend durch diese vierzehntausend an fünf- zehntausend kampfunfähig gemacht! Die einzelnen eingegangenen Rapporte mögen vielleicht übertrieben haben. Lord Raglan lügt nicht. Er hat geschrie¬ ben, was ihm berichtet wurde, was er sah, was er glaubt. Es sollte mich nicht wundern, wenn mein Nachbar, Mr. Jones, seiner Frau, der ehrenwer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/402>, abgerufen am 22.07.2024.