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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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schiebe denken mag, man wird doch mit einem gewissen Interesse diese Stamm-
bäume verfolgen, in denen sich unsre Geschichte gewissermaßen individualisirt.
Daß der Familienstolz mit dem Nationalstolz eine gewisse Verwandtschaft hat,
daß er gleich diesem leicht zu Thorheiten verführt, und sogar der Verirrung
vielmehr ausgesetzt ist, weil er unmittelbar ins rechtliche und politische Leben
eingreift, ist eine bekannte Sache. Auf der andern Seite ist es aber gewiß
von Werth, durch geschlechtliche Traditionen mit der Vergangenheit in Verbin¬
dung zu stehen und so das historische Leben der Nation in sinnlicher Unmit¬
telbarkeit mitzuempfinden. --

Ein äußerst fleißiges und dankenswerthes Werk ist die "Geschichte der
amerikanischen Urreligionen" von Müller. Das Material, welches der Ver¬
fasser dazu benutzen mußte, ist ein außerordentlich umfangreiches, und die Voll-,
Ständigkeit, die er darin erreicht, ist daher nicht gering anzuschlagen. Noch
lobenswerther ist die Ordnung, mit der er diese wüste Masse dem Leser zugäng¬
lich gemacht, und die scharfe Kritik, mit der er, soweit es in solchen dunklen
Verhältnissen möglich ist, die naheliegenden Mißverständnisse zu entfernen ge¬
sucht hat. Indeß würde bei dem vorliegenden Gegenstand der größte Fleiß
immer nur von einem geringen Werth sein, wenn er nicht von einer richtigen
Einsicht in das wahre Wesen der Religion getragen wäre. Zwar wird man sich
bei einem so schwierigen Gegenstand, der mit den heiligsten und heimlichsten
Bewegungen der menschlichen Seele zusammenhängt, niemals ganz der Voraus¬
setzungen entschlagen können, auf denen die eigne Stellung zur Religion be¬
ruht; allein es ist doch ein sehr großer Unterschied, ob man diese Voraus¬
setzungen unbewußt aus sich einwirken läßt, oder sie sich durch eingehende
Kritik klar zu machen sucht. Wir wollen in Beziehung aus das, vorliegende
Buch nur auf einen Umstand aufmerksam machen.

- In der Zeit der Entdeckung Amerikas und der Wiederauffindung Indiens
war das specifische Christenthum noch mächtig genug, um in den Götterbildun-
gen aller heidnischen Völker nichts Anderes zu finden, als teuflische Einflüsse;
und wenn einmal irgendein Symbol auffallend an die christliche Dogmatik er¬
innerte, so war man aufs tiefste betroffen und verfehlte nicht, eine directe Ue¬
berlieferung des Christenthums darin zu suchen. In den nächstfolgenden Jahr¬
hunderten haben namentlich die Jesuiten eine große Geschicklichkeit entwickelt,
diese scheinbare Uebereinstimmung für ihr Missionswerk zu benutzen, und dix
gewaltige Kluft, die in der That zwischen der heidnischen und christlichen Re¬
ligion bestand, durch die Verwandtschaft der symbolischen Formen zu verdecken.

In dieser Beziehung waren die Jesuiten, so wunderlich es klingt, die Vor¬
läufer des Rationalismus. Die rationalistische Denkart, die seit dem vorigen
Jahrhunderte die herrschende war, verfuhr umgekehrt, als das Christenthum
"n 16. Jahrhundert. Auch wo sie in der Feindschaft gegen die bestimmte Re-


schiebe denken mag, man wird doch mit einem gewissen Interesse diese Stamm-
bäume verfolgen, in denen sich unsre Geschichte gewissermaßen individualisirt.
Daß der Familienstolz mit dem Nationalstolz eine gewisse Verwandtschaft hat,
daß er gleich diesem leicht zu Thorheiten verführt, und sogar der Verirrung
vielmehr ausgesetzt ist, weil er unmittelbar ins rechtliche und politische Leben
eingreift, ist eine bekannte Sache. Auf der andern Seite ist es aber gewiß
von Werth, durch geschlechtliche Traditionen mit der Vergangenheit in Verbin¬
dung zu stehen und so das historische Leben der Nation in sinnlicher Unmit¬
telbarkeit mitzuempfinden. —

Ein äußerst fleißiges und dankenswerthes Werk ist die „Geschichte der
amerikanischen Urreligionen" von Müller. Das Material, welches der Ver¬
fasser dazu benutzen mußte, ist ein außerordentlich umfangreiches, und die Voll-,
Ständigkeit, die er darin erreicht, ist daher nicht gering anzuschlagen. Noch
lobenswerther ist die Ordnung, mit der er diese wüste Masse dem Leser zugäng¬
lich gemacht, und die scharfe Kritik, mit der er, soweit es in solchen dunklen
Verhältnissen möglich ist, die naheliegenden Mißverständnisse zu entfernen ge¬
sucht hat. Indeß würde bei dem vorliegenden Gegenstand der größte Fleiß
immer nur von einem geringen Werth sein, wenn er nicht von einer richtigen
Einsicht in das wahre Wesen der Religion getragen wäre. Zwar wird man sich
bei einem so schwierigen Gegenstand, der mit den heiligsten und heimlichsten
Bewegungen der menschlichen Seele zusammenhängt, niemals ganz der Voraus¬
setzungen entschlagen können, auf denen die eigne Stellung zur Religion be¬
ruht; allein es ist doch ein sehr großer Unterschied, ob man diese Voraus¬
setzungen unbewußt aus sich einwirken läßt, oder sie sich durch eingehende
Kritik klar zu machen sucht. Wir wollen in Beziehung aus das, vorliegende
Buch nur auf einen Umstand aufmerksam machen.

- In der Zeit der Entdeckung Amerikas und der Wiederauffindung Indiens
war das specifische Christenthum noch mächtig genug, um in den Götterbildun-
gen aller heidnischen Völker nichts Anderes zu finden, als teuflische Einflüsse;
und wenn einmal irgendein Symbol auffallend an die christliche Dogmatik er¬
innerte, so war man aufs tiefste betroffen und verfehlte nicht, eine directe Ue¬
berlieferung des Christenthums darin zu suchen. In den nächstfolgenden Jahr¬
hunderten haben namentlich die Jesuiten eine große Geschicklichkeit entwickelt,
diese scheinbare Uebereinstimmung für ihr Missionswerk zu benutzen, und dix
gewaltige Kluft, die in der That zwischen der heidnischen und christlichen Re¬
ligion bestand, durch die Verwandtschaft der symbolischen Formen zu verdecken.

In dieser Beziehung waren die Jesuiten, so wunderlich es klingt, die Vor¬
läufer des Rationalismus. Die rationalistische Denkart, die seit dem vorigen
Jahrhunderte die herrschende war, verfuhr umgekehrt, als das Christenthum
"n 16. Jahrhundert. Auch wo sie in der Feindschaft gegen die bestimmte Re-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/335>, abgerufen am 24.08.2024.