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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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bürgerlichen Zustände, Gewerbe, Handel und was damit zusammenhängt, bei
der Berechnung des politischen Werths eines Landes sehr in Anschlag kommen.
Auch von dieser Seite werden wir Staaten wie Preußen und Sachsen besser
würdigen, wenn wir überlegen, daß trotz aller Verirrungen in der großen
Politik die eigentliche Productionskraft deS Landes in einem beständigen Fort¬
schritt begriffen ist, und daß diese innern Culturverhältnisse dann mit zwingender
Nothwendigkeit auf den Willen selbst übelgesinnter Machthaber einwirken. So
könnten wir z. B. aus den letzten Jahren der preußischen Geschichte Beispiele
genug dafür anführen, daß die Logik der natürlichen Bedingungen mächtiger
ist, als die Willkür der einzelnen.

Was nun die Behandlung jenes reichen, interessanten Stoffs betrifft, so
müssen wir zuerst die politische Gesinnung ins Auge -fassen. Lord Mahon hat
die umgekehrte Entwicklung durchgemacht, als sein berühmter Nebenbuhler
Macaulay. Die Gesinnung, die sich in den- frühesten Schriften des letztern
ausspricht, könnten wir fast als Radicalismus bezeichnen, wobei freilich hinzu¬
zusetzen wäre, daß der Radicalismus eines gebildeten Engländers nie so ins
Unbestimmte und Grenzenlose geht, als bei uns Deutschen. In seinem Ge¬
schichtswerk dagegen vertritt er sehr gemäßigte, liberale Grundsätze, und wenn
wir seine frühern Versuche damit vergleichen, die sich auf dieselbe Zeit beziehen,
so werden wir finden, daß auch sein Urtheil über einzelne Personen sich dem¬
nach mannigfaltig modificirt hat. Lord Mahon dagegen trat als bitterer Tory
ins öffentliche Leben; er wurde in seinem 25. Jahr für einen von seiner Fa¬
milie abhängigen Flecken ins Parlament gewählt und nahm vier Jahre darauf
an dem torvstischen Ministerium theil. Aber in den folgenden zwölf Jahren
erfolgte die allmälige Umgestaltung der Torypartei durch Robert Peel. Lord
Mahon nahm an derselben einen entschiedenen Antheil, und so stehen jetzt die
beiden Männer ungefähr auf der nämlichen Stufe politischer Gesinnung, wie
auch ihre Parteien im gegenwärtigen Ministerium gleichmäßig betheiligt sind.
In der Färbung ihrer Auffassungen bleibt trotzdem immer noch ein merklicher
Unterschied, da die alten Traditionen sich wenigstens noch in den Motiven
gellendmachen, wenn sie aus den Resultaten bereits verschwunden sind; aber
auf das Wesen der Sache hat diese verschiedene Färbung keinen Einfluß mehr,
und mit der Zeit, wenn Macaulay den Wünschen des gesammten Europa
soweit entsprochen haben wird, um sein Geschichtswerk wenigstens bis zu der
Zeit zu vollenden, wo Lord Mahon beginnt, so wird man die beiden Bücher
vielleicht hintereinander weg lesen können, ohne in der Gesinnung einen merk¬
lichen Unterschied wahrzunehmen. -- Das Ist freilich nur durch den Hinzutritt
zweier Umstände möglich. Einmal ist Lord Mahon trotz seines conservativen
Princips, das ihn gegen alle Neuerungen in der Verfassung bedenklich macht,
dennoch auf das lebhafteste von der Idee der Rechte und Freiheiten des Volkes


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bürgerlichen Zustände, Gewerbe, Handel und was damit zusammenhängt, bei
der Berechnung des politischen Werths eines Landes sehr in Anschlag kommen.
Auch von dieser Seite werden wir Staaten wie Preußen und Sachsen besser
würdigen, wenn wir überlegen, daß trotz aller Verirrungen in der großen
Politik die eigentliche Productionskraft deS Landes in einem beständigen Fort¬
schritt begriffen ist, und daß diese innern Culturverhältnisse dann mit zwingender
Nothwendigkeit auf den Willen selbst übelgesinnter Machthaber einwirken. So
könnten wir z. B. aus den letzten Jahren der preußischen Geschichte Beispiele
genug dafür anführen, daß die Logik der natürlichen Bedingungen mächtiger
ist, als die Willkür der einzelnen.

Was nun die Behandlung jenes reichen, interessanten Stoffs betrifft, so
müssen wir zuerst die politische Gesinnung ins Auge -fassen. Lord Mahon hat
die umgekehrte Entwicklung durchgemacht, als sein berühmter Nebenbuhler
Macaulay. Die Gesinnung, die sich in den- frühesten Schriften des letztern
ausspricht, könnten wir fast als Radicalismus bezeichnen, wobei freilich hinzu¬
zusetzen wäre, daß der Radicalismus eines gebildeten Engländers nie so ins
Unbestimmte und Grenzenlose geht, als bei uns Deutschen. In seinem Ge¬
schichtswerk dagegen vertritt er sehr gemäßigte, liberale Grundsätze, und wenn
wir seine frühern Versuche damit vergleichen, die sich auf dieselbe Zeit beziehen,
so werden wir finden, daß auch sein Urtheil über einzelne Personen sich dem¬
nach mannigfaltig modificirt hat. Lord Mahon dagegen trat als bitterer Tory
ins öffentliche Leben; er wurde in seinem 25. Jahr für einen von seiner Fa¬
milie abhängigen Flecken ins Parlament gewählt und nahm vier Jahre darauf
an dem torvstischen Ministerium theil. Aber in den folgenden zwölf Jahren
erfolgte die allmälige Umgestaltung der Torypartei durch Robert Peel. Lord
Mahon nahm an derselben einen entschiedenen Antheil, und so stehen jetzt die
beiden Männer ungefähr auf der nämlichen Stufe politischer Gesinnung, wie
auch ihre Parteien im gegenwärtigen Ministerium gleichmäßig betheiligt sind.
In der Färbung ihrer Auffassungen bleibt trotzdem immer noch ein merklicher
Unterschied, da die alten Traditionen sich wenigstens noch in den Motiven
gellendmachen, wenn sie aus den Resultaten bereits verschwunden sind; aber
auf das Wesen der Sache hat diese verschiedene Färbung keinen Einfluß mehr,
und mit der Zeit, wenn Macaulay den Wünschen des gesammten Europa
soweit entsprochen haben wird, um sein Geschichtswerk wenigstens bis zu der
Zeit zu vollenden, wo Lord Mahon beginnt, so wird man die beiden Bücher
vielleicht hintereinander weg lesen können, ohne in der Gesinnung einen merk¬
lichen Unterschied wahrzunehmen. — Das Ist freilich nur durch den Hinzutritt
zweier Umstände möglich. Einmal ist Lord Mahon trotz seines conservativen
Princips, das ihn gegen alle Neuerungen in der Verfassung bedenklich macht,
dennoch auf das lebhafteste von der Idee der Rechte und Freiheiten des Volkes


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[0331] bürgerlichen Zustände, Gewerbe, Handel und was damit zusammenhängt, bei der Berechnung des politischen Werths eines Landes sehr in Anschlag kommen. Auch von dieser Seite werden wir Staaten wie Preußen und Sachsen besser würdigen, wenn wir überlegen, daß trotz aller Verirrungen in der großen Politik die eigentliche Productionskraft deS Landes in einem beständigen Fort¬ schritt begriffen ist, und daß diese innern Culturverhältnisse dann mit zwingender Nothwendigkeit auf den Willen selbst übelgesinnter Machthaber einwirken. So könnten wir z. B. aus den letzten Jahren der preußischen Geschichte Beispiele genug dafür anführen, daß die Logik der natürlichen Bedingungen mächtiger ist, als die Willkür der einzelnen. Was nun die Behandlung jenes reichen, interessanten Stoffs betrifft, so müssen wir zuerst die politische Gesinnung ins Auge -fassen. Lord Mahon hat die umgekehrte Entwicklung durchgemacht, als sein berühmter Nebenbuhler Macaulay. Die Gesinnung, die sich in den- frühesten Schriften des letztern ausspricht, könnten wir fast als Radicalismus bezeichnen, wobei freilich hinzu¬ zusetzen wäre, daß der Radicalismus eines gebildeten Engländers nie so ins Unbestimmte und Grenzenlose geht, als bei uns Deutschen. In seinem Ge¬ schichtswerk dagegen vertritt er sehr gemäßigte, liberale Grundsätze, und wenn wir seine frühern Versuche damit vergleichen, die sich auf dieselbe Zeit beziehen, so werden wir finden, daß auch sein Urtheil über einzelne Personen sich dem¬ nach mannigfaltig modificirt hat. Lord Mahon dagegen trat als bitterer Tory ins öffentliche Leben; er wurde in seinem 25. Jahr für einen von seiner Fa¬ milie abhängigen Flecken ins Parlament gewählt und nahm vier Jahre darauf an dem torvstischen Ministerium theil. Aber in den folgenden zwölf Jahren erfolgte die allmälige Umgestaltung der Torypartei durch Robert Peel. Lord Mahon nahm an derselben einen entschiedenen Antheil, und so stehen jetzt die beiden Männer ungefähr auf der nämlichen Stufe politischer Gesinnung, wie auch ihre Parteien im gegenwärtigen Ministerium gleichmäßig betheiligt sind. In der Färbung ihrer Auffassungen bleibt trotzdem immer noch ein merklicher Unterschied, da die alten Traditionen sich wenigstens noch in den Motiven gellendmachen, wenn sie aus den Resultaten bereits verschwunden sind; aber auf das Wesen der Sache hat diese verschiedene Färbung keinen Einfluß mehr, und mit der Zeit, wenn Macaulay den Wünschen des gesammten Europa soweit entsprochen haben wird, um sein Geschichtswerk wenigstens bis zu der Zeit zu vollenden, wo Lord Mahon beginnt, so wird man die beiden Bücher vielleicht hintereinander weg lesen können, ohne in der Gesinnung einen merk¬ lichen Unterschied wahrzunehmen. — Das Ist freilich nur durch den Hinzutritt zweier Umstände möglich. Einmal ist Lord Mahon trotz seines conservativen Princips, das ihn gegen alle Neuerungen in der Verfassung bedenklich macht, dennoch auf das lebhafteste von der Idee der Rechte und Freiheiten des Volkes 4-1 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/331>, abgerufen am 22.07.2024.