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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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erkennenswerth sind, so scheint uns doch die eigentlich wissenschaftliche Literatur,
namentlich die historische, viel mehr Beachtung zu verdienen. Zwar ist es ganz
in der Ordnung, den Geschmack des lesenden Publicums mit in Rechnung
zu ziehen, aber wir glauben, daß auch dieser nicht immer aus Seite der
Belletristik sein wird. Wir sind fest davon überzeugt, daß das vorliegende
Werk, blos als Unterhaltungslectüre betrachtet, einen viel größern .Leser¬
kreis finden wird, als z. B. der neueste Roman von Bulwer, der gleich¬
falls in dieser Ausgabe mitgetheilt wird, und der uns wenigstens auf das
tödlichste gelangweilt hat. Es wird gar nicht immer nöthig sein, sich auf die
neueste Literatur zu beschränken. So gut in der Tauchnitzschen Ausgabe die
Schriften von Fielding, Milton, Smollet, Sterne und anderen ausgenommen
sind, kann es z. B. auch mit Gibbon geschehen. Vor allen möchten wir aber
diejenigen Schriftsteller empfehlen, die sich mit der neuern Geschichte be¬
schäftigen und die in mancher Beziehung unsren eignen Geschichtschreibern als
Muster dienen könnten. Denn wir gehen zwar in Bezug auf Forschung und
Neflerion den andern Nationen voran, aber in der Darstellung hat sich bei
uns noch kein classischer Stil gebildet.

Die Wahl des vorliegenden Werks können wir als eine sehr glückliche
bezeichnen. Zunächst wegen des Stoffs. Die siebzig Jahre der englischen Ge¬
schichte, welche es umfaßt, sind diejenigen, in welchen die Größe Englands,
zu der durch frühere, entschlossenere Thaten der Grund gelegt war, sich im
einzelnen auf eine organische und naturgemäße Weise entwickelte. Für uns
Deutsche kommt dabei noch ein anderer Umstand in Betracht. Die Große
Englands hat sich entwickelt, ohne daß große Männer dabei betheiligt gewesen
wären. Diese ganze Zeit enthält nur einen Charakter von größerem Zuschnitt,
den ältern Pitt, und man kann nicht eigentlich behaupten, daß die Einwirkung
desselben auf die Entwicklung des Reichs eine durchgreifende gewesen sei. Im
übrigen sehen wir in den Höhen des Staatslebens Menschen grade wie bei
uns, Talente ohne Charakter und Charaktere ohne Talent. Wir können daraus
zweierlei lernen. Einmal, daß die Institutionen eines Landes, wenn das Volk
. sich ernsthaft und aufrichtig daran betheiligt, doch wichtiger für das Gedeihen
desselben sind, als der moderne Absolutismus und die moderne Demokratie es
sich einbilden. Es ist gar nicht nöthig, daß diese Institutionen im einzelnen
allen Anforderungen entsprechen. Das Wahlsystem der Engländer war gewiß
in jener Zeit viel schlechter, als das jetzige preußische Wahlsystem, und ein
echter Demokrat würde darin nichts Anderes gesehen haben ^ als eine Ver¬
fälschung des Volkswillens. Aber die Hauptsache war, das gesammte 'Publi-
cum wurde durch diese Vermittlung an den öffentlichen Angelegenheiten be¬
theiligt, und dadurch verwandelte sich im Laufe der Zeit mit Nothwendigkeit
die Cabinetspolitik in eine Volkspolitik. Sodann lernen wir daraus, daß die


erkennenswerth sind, so scheint uns doch die eigentlich wissenschaftliche Literatur,
namentlich die historische, viel mehr Beachtung zu verdienen. Zwar ist es ganz
in der Ordnung, den Geschmack des lesenden Publicums mit in Rechnung
zu ziehen, aber wir glauben, daß auch dieser nicht immer aus Seite der
Belletristik sein wird. Wir sind fest davon überzeugt, daß das vorliegende
Werk, blos als Unterhaltungslectüre betrachtet, einen viel größern .Leser¬
kreis finden wird, als z. B. der neueste Roman von Bulwer, der gleich¬
falls in dieser Ausgabe mitgetheilt wird, und der uns wenigstens auf das
tödlichste gelangweilt hat. Es wird gar nicht immer nöthig sein, sich auf die
neueste Literatur zu beschränken. So gut in der Tauchnitzschen Ausgabe die
Schriften von Fielding, Milton, Smollet, Sterne und anderen ausgenommen
sind, kann es z. B. auch mit Gibbon geschehen. Vor allen möchten wir aber
diejenigen Schriftsteller empfehlen, die sich mit der neuern Geschichte be¬
schäftigen und die in mancher Beziehung unsren eignen Geschichtschreibern als
Muster dienen könnten. Denn wir gehen zwar in Bezug auf Forschung und
Neflerion den andern Nationen voran, aber in der Darstellung hat sich bei
uns noch kein classischer Stil gebildet.

Die Wahl des vorliegenden Werks können wir als eine sehr glückliche
bezeichnen. Zunächst wegen des Stoffs. Die siebzig Jahre der englischen Ge¬
schichte, welche es umfaßt, sind diejenigen, in welchen die Größe Englands,
zu der durch frühere, entschlossenere Thaten der Grund gelegt war, sich im
einzelnen auf eine organische und naturgemäße Weise entwickelte. Für uns
Deutsche kommt dabei noch ein anderer Umstand in Betracht. Die Große
Englands hat sich entwickelt, ohne daß große Männer dabei betheiligt gewesen
wären. Diese ganze Zeit enthält nur einen Charakter von größerem Zuschnitt,
den ältern Pitt, und man kann nicht eigentlich behaupten, daß die Einwirkung
desselben auf die Entwicklung des Reichs eine durchgreifende gewesen sei. Im
übrigen sehen wir in den Höhen des Staatslebens Menschen grade wie bei
uns, Talente ohne Charakter und Charaktere ohne Talent. Wir können daraus
zweierlei lernen. Einmal, daß die Institutionen eines Landes, wenn das Volk
. sich ernsthaft und aufrichtig daran betheiligt, doch wichtiger für das Gedeihen
desselben sind, als der moderne Absolutismus und die moderne Demokratie es
sich einbilden. Es ist gar nicht nöthig, daß diese Institutionen im einzelnen
allen Anforderungen entsprechen. Das Wahlsystem der Engländer war gewiß
in jener Zeit viel schlechter, als das jetzige preußische Wahlsystem, und ein
echter Demokrat würde darin nichts Anderes gesehen haben ^ als eine Ver¬
fälschung des Volkswillens. Aber die Hauptsache war, das gesammte 'Publi-
cum wurde durch diese Vermittlung an den öffentlichen Angelegenheiten be¬
theiligt, und dadurch verwandelte sich im Laufe der Zeit mit Nothwendigkeit
die Cabinetspolitik in eine Volkspolitik. Sodann lernen wir daraus, daß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/330>, abgerufen am 22.07.2024.