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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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wünschen könne, jede einzelne Empfindung seines Lebens aller Welt bloßgelegt
zu sehen!

Nun gehört Rosenkranz doch, wenigstens in der Wissenschaft, zu einer be¬
stimmten Partei: er hat also sachliche Gegner; er hat serner vielfältig Urtheile über
Personen in billigenden und mißbilligenden Sinn veröffentlicht: er steht also
auch zu Personen in bestimmten Beziehungen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten
sind nicht in der strengen Methode abgefaßt, daß sie auch den Gegner zur Ue¬
bereinstimmung zwängen. Wenn er sich also trotzdem nicht scheut, uns in die
geheimste Werkstätte seines Geistes einzuführen, so liegt das eben darin, daß
er mit seiner ganzen liebenswürdigen Persönlichkeit in seiner literarischen Thätig¬
keit aufgeht, daß er die eine von der andern nicht zu trennen vermag, und
daß er die Möglichkeit einer solchen Scheidung auch nicht bei andern vor¬
aussetzt.

"Ich gehöre," sagt er Seite 308, "zu den intuitiver Menschen. Durch
Gedankenrechnerei werde ich nichts herausbringen; bei mir geht die blitzartige
Anschauung des Ganzen der Hingabe an die Einzelnheiten voran. Ich bin
aber deshalb auch von Stimmungen abhängig und kann ohne ein gewisses
lyrisches, wiewol sachliches Pathos nichts arbeiten." -- Im allgemeinsten Sinn
aufgefaßt, würde diese Erklärung wol auf jeden Denker, der sich nicht grade
mit bloßen Rechnungen beschäftigt, angewandt werden können; sie gilt aber für
Rosenkranz in ganz specifischem Sinn und ist ein offenherziges und durchaus
richtiges Geständniß.

In der ästhetischen Bildung des vorigen Jahrhunderts trug man sich viel
mit dem Ausdruck: schöne Seele. Der Ausdruck ist jetzt durch häufigen Mi߬
brauch in Verruf gekommen, da man Personen darunter versteht, die ihre Em¬
pfindungen zur Schau stellen, wie Herr von Florencourt und andre Koketten.
Fassen wir aber den Begriff im alten Sinne auf, wie ihn Schiller und Goethe
gebrauchten, so wird er ungefähr auf jene Erklärung herauskommen, die Rosen¬
kranz mit Recht von seinem eignen Wesen gibt. Die Betheiligung des Ge¬
müths ist allerdings auch für jede größere wissenschaftliche Arbeit nothwendig,
aber nur einer speciellen Seite deö Gemüths, während die schöne Seele sich
überall mit der Totalität ihres Gemüths betheiligt.

Für die wissenschaftliche Forschung, für die Kritik und für die praktische
Lebenöbcobachtung ist diese Stimmung nicht durchweg förderlich. Was das letztere
betrifft, so mögen diejenigen, die mit den Königsberger Universitätsverhältnissen
in den Jahren 1837--18i0 bekannt waren, die Geschichte Seite 27i nach¬
schlagen. Eine solche Täuschung über Persönlichkeiten, mit denen man in be¬
ständigem Verkehr steht, von Seiten eines geistvollen und feingebildeten Mannes
wäre gradezu unerklärlich, wenn man nicht eben aus jener Stimmung die Nei¬
gung herleiten müßte, zur Befriedigung des Gemüths in die Menschen hinein-


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wünschen könne, jede einzelne Empfindung seines Lebens aller Welt bloßgelegt
zu sehen!

Nun gehört Rosenkranz doch, wenigstens in der Wissenschaft, zu einer be¬
stimmten Partei: er hat also sachliche Gegner; er hat serner vielfältig Urtheile über
Personen in billigenden und mißbilligenden Sinn veröffentlicht: er steht also
auch zu Personen in bestimmten Beziehungen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten
sind nicht in der strengen Methode abgefaßt, daß sie auch den Gegner zur Ue¬
bereinstimmung zwängen. Wenn er sich also trotzdem nicht scheut, uns in die
geheimste Werkstätte seines Geistes einzuführen, so liegt das eben darin, daß
er mit seiner ganzen liebenswürdigen Persönlichkeit in seiner literarischen Thätig¬
keit aufgeht, daß er die eine von der andern nicht zu trennen vermag, und
daß er die Möglichkeit einer solchen Scheidung auch nicht bei andern vor¬
aussetzt.

„Ich gehöre," sagt er Seite 308, „zu den intuitiver Menschen. Durch
Gedankenrechnerei werde ich nichts herausbringen; bei mir geht die blitzartige
Anschauung des Ganzen der Hingabe an die Einzelnheiten voran. Ich bin
aber deshalb auch von Stimmungen abhängig und kann ohne ein gewisses
lyrisches, wiewol sachliches Pathos nichts arbeiten." — Im allgemeinsten Sinn
aufgefaßt, würde diese Erklärung wol auf jeden Denker, der sich nicht grade
mit bloßen Rechnungen beschäftigt, angewandt werden können; sie gilt aber für
Rosenkranz in ganz specifischem Sinn und ist ein offenherziges und durchaus
richtiges Geständniß.

In der ästhetischen Bildung des vorigen Jahrhunderts trug man sich viel
mit dem Ausdruck: schöne Seele. Der Ausdruck ist jetzt durch häufigen Mi߬
brauch in Verruf gekommen, da man Personen darunter versteht, die ihre Em¬
pfindungen zur Schau stellen, wie Herr von Florencourt und andre Koketten.
Fassen wir aber den Begriff im alten Sinne auf, wie ihn Schiller und Goethe
gebrauchten, so wird er ungefähr auf jene Erklärung herauskommen, die Rosen¬
kranz mit Recht von seinem eignen Wesen gibt. Die Betheiligung des Ge¬
müths ist allerdings auch für jede größere wissenschaftliche Arbeit nothwendig,
aber nur einer speciellen Seite deö Gemüths, während die schöne Seele sich
überall mit der Totalität ihres Gemüths betheiligt.

Für die wissenschaftliche Forschung, für die Kritik und für die praktische
Lebenöbcobachtung ist diese Stimmung nicht durchweg förderlich. Was das letztere
betrifft, so mögen diejenigen, die mit den Königsberger Universitätsverhältnissen
in den Jahren 1837—18i0 bekannt waren, die Geschichte Seite 27i nach¬
schlagen. Eine solche Täuschung über Persönlichkeiten, mit denen man in be¬
ständigem Verkehr steht, von Seiten eines geistvollen und feingebildeten Mannes
wäre gradezu unerklärlich, wenn man nicht eben aus jener Stimmung die Nei¬
gung herleiten müßte, zur Befriedigung des Gemüths in die Menschen hinein-


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[0299] wünschen könne, jede einzelne Empfindung seines Lebens aller Welt bloßgelegt zu sehen! Nun gehört Rosenkranz doch, wenigstens in der Wissenschaft, zu einer be¬ stimmten Partei: er hat also sachliche Gegner; er hat serner vielfältig Urtheile über Personen in billigenden und mißbilligenden Sinn veröffentlicht: er steht also auch zu Personen in bestimmten Beziehungen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind nicht in der strengen Methode abgefaßt, daß sie auch den Gegner zur Ue¬ bereinstimmung zwängen. Wenn er sich also trotzdem nicht scheut, uns in die geheimste Werkstätte seines Geistes einzuführen, so liegt das eben darin, daß er mit seiner ganzen liebenswürdigen Persönlichkeit in seiner literarischen Thätig¬ keit aufgeht, daß er die eine von der andern nicht zu trennen vermag, und daß er die Möglichkeit einer solchen Scheidung auch nicht bei andern vor¬ aussetzt. „Ich gehöre," sagt er Seite 308, „zu den intuitiver Menschen. Durch Gedankenrechnerei werde ich nichts herausbringen; bei mir geht die blitzartige Anschauung des Ganzen der Hingabe an die Einzelnheiten voran. Ich bin aber deshalb auch von Stimmungen abhängig und kann ohne ein gewisses lyrisches, wiewol sachliches Pathos nichts arbeiten." — Im allgemeinsten Sinn aufgefaßt, würde diese Erklärung wol auf jeden Denker, der sich nicht grade mit bloßen Rechnungen beschäftigt, angewandt werden können; sie gilt aber für Rosenkranz in ganz specifischem Sinn und ist ein offenherziges und durchaus richtiges Geständniß. In der ästhetischen Bildung des vorigen Jahrhunderts trug man sich viel mit dem Ausdruck: schöne Seele. Der Ausdruck ist jetzt durch häufigen Mi߬ brauch in Verruf gekommen, da man Personen darunter versteht, die ihre Em¬ pfindungen zur Schau stellen, wie Herr von Florencourt und andre Koketten. Fassen wir aber den Begriff im alten Sinne auf, wie ihn Schiller und Goethe gebrauchten, so wird er ungefähr auf jene Erklärung herauskommen, die Rosen¬ kranz mit Recht von seinem eignen Wesen gibt. Die Betheiligung des Ge¬ müths ist allerdings auch für jede größere wissenschaftliche Arbeit nothwendig, aber nur einer speciellen Seite deö Gemüths, während die schöne Seele sich überall mit der Totalität ihres Gemüths betheiligt. Für die wissenschaftliche Forschung, für die Kritik und für die praktische Lebenöbcobachtung ist diese Stimmung nicht durchweg förderlich. Was das letztere betrifft, so mögen diejenigen, die mit den Königsberger Universitätsverhältnissen in den Jahren 1837—18i0 bekannt waren, die Geschichte Seite 27i nach¬ schlagen. Eine solche Täuschung über Persönlichkeiten, mit denen man in be¬ ständigem Verkehr steht, von Seiten eines geistvollen und feingebildeten Mannes wäre gradezu unerklärlich, wenn man nicht eben aus jener Stimmung die Nei¬ gung herleiten müßte, zur Befriedigung des Gemüths in die Menschen hinein- 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/299>, abgerufen am 22.07.2024.