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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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und wiegen sich in der Hoffnung, daß die große Stunde schlagen werde, wenn
dereinst Sultan Abdul Medschid die Augen schließen sollte. Der, auf welchen
alle Erwartungen sich stützen, ist sein Bruder Assis Efendi.

Diese alttürkische Partei, oder richtiger zu sagen das Volk, ist von rein
national muselmanischer Färbung. Im Grunde der Seele wird das Franken-
thum und die Mehrzahl der Neuerungen von ihm gehaßt; nur für die Vortheile,
welche ein geordnetes und auf europäischen Fuß gebrachtes Kriegswesen mit
sich bringt, hat man ein offenes Auge. Als Todfeinde betrachtet man die
Russen; aber das verhindert nicht, daß man beinahe das nämliche, Mißtrauen
gegen die Engländer hegt. Für die Oestreicher, welche man schlechtweg Deutsche
(Nemze) nennt, bewahrt man einen alten Groll, und die Preußen, obwol
Offiziere aus diesem Lande die Artillerie organisirten, sind eb.en auch nur
Giaurs. Am angenehmsten wußten sich der Volkspartei seither, namentlich in
den letzten Monaten, die Franzosen zu machen. Die Wegnahme Algiers und
den vormaligen Krieg in Aegypten vergißt man gern über.dem Umstand, daß
sie die meisten Hilfstruppen und Schiffe sendeten, und deßungeachtet keinen so
stolzen und gebietenden Gesandten, wie Lord Strcttford. Ob sich nicht damit
eine tiefere Beurtheilung der Verhältnisse, insbesondere die Ueberzeugung ver¬
binden sollte, daß Frankreich um Orient keine erobernde Macht ist und seine
Armee nur zu einem Ritterdienst für die Civilisation aussendete, während
England materiellem Gewinn nachstrebt?

Wie sich Ihre Leser erinnern werden, machte ich schon einmal den Kriegs¬
fall zwischen Oestreich und Rußland zum Gegenstand militärischer Erörterung
in diesen Blättern. Wir standen damals am Anfang des Sommers; die Rus¬
sen hatten zwar die kleine Walachei bereits geräumt, aber noch standen sie
mit starker Macht in der großen und ließen ihre Kanonen vor den Vorwerken
von Silistria donnern. Der Zusammenstoß beider Ostmächte war damals eben
nur eine Möglichkeit -- heute ist er zur Wahrscheinlichkeit geworden, aber die
Umstände haben sich seitdem bedeutend geändert.

In demselben Maße als der Fortbestand seiner freundlichen Beziehungen
zum Wiener Cabinet fraglicher wurde, ließ Rußland seine Streitkräfte aus den
occupirten Donausürstenthumern zurückgehen. Das Aufgeben der kleinen Wa¬
lachei war der erste Schritt nach rückwärts gewesen; zu Ende Juli verließen
die Russen Bukarest, und am Schluß des folgenden Monats hatten sie nur
noch eine strategische Arrieregarde in der Moldau, bis endlich auch diese ge¬
räumt und der Rest der Donauarmee über den Pruth zurückgenommen wurde.

Damit hat Rußland die umfassende BogenMung aufgegeben, welche es
seit seiner Occupation der Fürstenthümer gegen Oestreich eingenommen hatte,


Grenzboten. IV. ' 34

und wiegen sich in der Hoffnung, daß die große Stunde schlagen werde, wenn
dereinst Sultan Abdul Medschid die Augen schließen sollte. Der, auf welchen
alle Erwartungen sich stützen, ist sein Bruder Assis Efendi.

Diese alttürkische Partei, oder richtiger zu sagen das Volk, ist von rein
national muselmanischer Färbung. Im Grunde der Seele wird das Franken-
thum und die Mehrzahl der Neuerungen von ihm gehaßt; nur für die Vortheile,
welche ein geordnetes und auf europäischen Fuß gebrachtes Kriegswesen mit
sich bringt, hat man ein offenes Auge. Als Todfeinde betrachtet man die
Russen; aber das verhindert nicht, daß man beinahe das nämliche, Mißtrauen
gegen die Engländer hegt. Für die Oestreicher, welche man schlechtweg Deutsche
(Nemze) nennt, bewahrt man einen alten Groll, und die Preußen, obwol
Offiziere aus diesem Lande die Artillerie organisirten, sind eb.en auch nur
Giaurs. Am angenehmsten wußten sich der Volkspartei seither, namentlich in
den letzten Monaten, die Franzosen zu machen. Die Wegnahme Algiers und
den vormaligen Krieg in Aegypten vergißt man gern über.dem Umstand, daß
sie die meisten Hilfstruppen und Schiffe sendeten, und deßungeachtet keinen so
stolzen und gebietenden Gesandten, wie Lord Strcttford. Ob sich nicht damit
eine tiefere Beurtheilung der Verhältnisse, insbesondere die Ueberzeugung ver¬
binden sollte, daß Frankreich um Orient keine erobernde Macht ist und seine
Armee nur zu einem Ritterdienst für die Civilisation aussendete, während
England materiellem Gewinn nachstrebt?

Wie sich Ihre Leser erinnern werden, machte ich schon einmal den Kriegs¬
fall zwischen Oestreich und Rußland zum Gegenstand militärischer Erörterung
in diesen Blättern. Wir standen damals am Anfang des Sommers; die Rus¬
sen hatten zwar die kleine Walachei bereits geräumt, aber noch standen sie
mit starker Macht in der großen und ließen ihre Kanonen vor den Vorwerken
von Silistria donnern. Der Zusammenstoß beider Ostmächte war damals eben
nur eine Möglichkeit — heute ist er zur Wahrscheinlichkeit geworden, aber die
Umstände haben sich seitdem bedeutend geändert.

In demselben Maße als der Fortbestand seiner freundlichen Beziehungen
zum Wiener Cabinet fraglicher wurde, ließ Rußland seine Streitkräfte aus den
occupirten Donausürstenthumern zurückgehen. Das Aufgeben der kleinen Wa¬
lachei war der erste Schritt nach rückwärts gewesen; zu Ende Juli verließen
die Russen Bukarest, und am Schluß des folgenden Monats hatten sie nur
noch eine strategische Arrieregarde in der Moldau, bis endlich auch diese ge¬
räumt und der Rest der Donauarmee über den Pruth zurückgenommen wurde.

Damit hat Rußland die umfassende BogenMung aufgegeben, welche es
seit seiner Occupation der Fürstenthümer gegen Oestreich eingenommen hatte,


Grenzboten. IV. ' 34
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[0273] und wiegen sich in der Hoffnung, daß die große Stunde schlagen werde, wenn dereinst Sultan Abdul Medschid die Augen schließen sollte. Der, auf welchen alle Erwartungen sich stützen, ist sein Bruder Assis Efendi. Diese alttürkische Partei, oder richtiger zu sagen das Volk, ist von rein national muselmanischer Färbung. Im Grunde der Seele wird das Franken- thum und die Mehrzahl der Neuerungen von ihm gehaßt; nur für die Vortheile, welche ein geordnetes und auf europäischen Fuß gebrachtes Kriegswesen mit sich bringt, hat man ein offenes Auge. Als Todfeinde betrachtet man die Russen; aber das verhindert nicht, daß man beinahe das nämliche, Mißtrauen gegen die Engländer hegt. Für die Oestreicher, welche man schlechtweg Deutsche (Nemze) nennt, bewahrt man einen alten Groll, und die Preußen, obwol Offiziere aus diesem Lande die Artillerie organisirten, sind eb.en auch nur Giaurs. Am angenehmsten wußten sich der Volkspartei seither, namentlich in den letzten Monaten, die Franzosen zu machen. Die Wegnahme Algiers und den vormaligen Krieg in Aegypten vergißt man gern über.dem Umstand, daß sie die meisten Hilfstruppen und Schiffe sendeten, und deßungeachtet keinen so stolzen und gebietenden Gesandten, wie Lord Strcttford. Ob sich nicht damit eine tiefere Beurtheilung der Verhältnisse, insbesondere die Ueberzeugung ver¬ binden sollte, daß Frankreich um Orient keine erobernde Macht ist und seine Armee nur zu einem Ritterdienst für die Civilisation aussendete, während England materiellem Gewinn nachstrebt? Wie sich Ihre Leser erinnern werden, machte ich schon einmal den Kriegs¬ fall zwischen Oestreich und Rußland zum Gegenstand militärischer Erörterung in diesen Blättern. Wir standen damals am Anfang des Sommers; die Rus¬ sen hatten zwar die kleine Walachei bereits geräumt, aber noch standen sie mit starker Macht in der großen und ließen ihre Kanonen vor den Vorwerken von Silistria donnern. Der Zusammenstoß beider Ostmächte war damals eben nur eine Möglichkeit — heute ist er zur Wahrscheinlichkeit geworden, aber die Umstände haben sich seitdem bedeutend geändert. In demselben Maße als der Fortbestand seiner freundlichen Beziehungen zum Wiener Cabinet fraglicher wurde, ließ Rußland seine Streitkräfte aus den occupirten Donausürstenthumern zurückgehen. Das Aufgeben der kleinen Wa¬ lachei war der erste Schritt nach rückwärts gewesen; zu Ende Juli verließen die Russen Bukarest, und am Schluß des folgenden Monats hatten sie nur noch eine strategische Arrieregarde in der Moldau, bis endlich auch diese ge¬ räumt und der Rest der Donauarmee über den Pruth zurückgenommen wurde. Damit hat Rußland die umfassende BogenMung aufgegeben, welche es seit seiner Occupation der Fürstenthümer gegen Oestreich eingenommen hatte, Grenzboten. IV. ' 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/273>, abgerufen am 22.07.2024.