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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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aufgetreten sein, was die thatsächliche Leiterschaft dieses Seemanns, ein Gegen-
zugefländniß Frankreichs an England beeinträchtigt haben würde.

Das sind Blicke hinter den Vorhang, wie man sie nur an Ort und
Stelle, im Mittelpunkt der sich kreuzenden Interessen selbst, zu machen im
Stande ist.

Das Getriebe des türkischen Parteiwesens berührte ich in meinen Briefen
an Sie seit langer Zeit nicht. Es ist von dieser Seite her ziemlich alles still,
indeß geht eine Bewegung unterirdischer Art vor sich, von der man noch nicht
sagen kann, zu welchem Ziele sie hinführen wird. Sie haben hier, um die
Dinge in ihren rundesten Ausdruck zu fassen, zwei Parteien zu unterscheiden,
von denen die eine der Zahl nach gering, aber mit dem Sultan selbst an der
Spitze und unterstützt von . den bedeutendsten Kapacitäten die eigentlich re¬
gierende ist, außerdem den Einfluß der Westmächte und ihre materielle Unter¬
stützung hinter sich weiß, und darum kühn ist, -- indeß die andere aus der
überwiegenden Masse des Volks und, es muß zugestanden werden, auch des
Heeres zusammengesetzt, und von den Corporationen der Geistlichen und Rechts-
gelehrten geführt wird. Mehemed Ali Pascha, der Schwager des Sultans,
und Mehemed Ruschdi, vormaliger Kriegsminister (Seriasker), waren ihre
seitherigen Chefs; aber sie sind, wie in Hinsicht auf die öffentlichen Geschäfte, so
auch in Rücksicht auf die Parteileitung letztlich mehr in den Hintergrund ge¬
treten, und so kann man annehmen, daß die eigentliche Führung zur Stunde
in den Händen des Scheik ni Islam (sprich: Schech lJslam) liegt. Dieser
Mann ist jedenfalls ein schlauer Priester, und es spricht für seine Gewandtheit,
daß er mit Tendenzen, welche denen des Gesammtministeriums schnurstracks
entgegenlaufen, auf dem wichtigen Posten eines Chefs der Kirche und Justiz
sich zu erhalten weiß.

Da auch unterdrückte politische Parteien nie ohne Hoffnungen sind, indem
mit diesen letztern selbstredend ihre Existenz aufhören müßte, so darf man an¬
nehmen, daß auch die Alttürken die ihrigen hegen, wie wenig Aussicht zu ihrer
Verwirklichung auch immerhin vorhanden sein mag. Vom Standpunkte
jener großen Fraction' sind die heutigen Vorgänge nur die Symptome einer
großen Krisis, deren Ausgang die Wiederzuehrenbringung und neue Macht-
entfaltung des Islam sein wird. Dieser Gedanke ist allgemein verbreitet; Sie
finden ihn nicht nur in aller Munde, wenn sie vor dem Kaffeehause auf dem
Hoizschemel hockend und den Tschibuck trinkend den Reden der dort Abends
sich ihren "Kees" machenden Kreise lauschen; auch die türkischen Knaben sprechen
ihn in ihren Schimpfreden gegen die Franken auf der Straße als Drohung
aus; Sie finden ihn heimisch in der Hütte und im Konak; und das nicht blos
in Stambul; im Norden und Süden des Balkan, in Anadoli und Cham
(Syrien), in Mise (Aegypten) und Arabistan träumen die Gläubigen davon,


aufgetreten sein, was die thatsächliche Leiterschaft dieses Seemanns, ein Gegen-
zugefländniß Frankreichs an England beeinträchtigt haben würde.

Das sind Blicke hinter den Vorhang, wie man sie nur an Ort und
Stelle, im Mittelpunkt der sich kreuzenden Interessen selbst, zu machen im
Stande ist.

Das Getriebe des türkischen Parteiwesens berührte ich in meinen Briefen
an Sie seit langer Zeit nicht. Es ist von dieser Seite her ziemlich alles still,
indeß geht eine Bewegung unterirdischer Art vor sich, von der man noch nicht
sagen kann, zu welchem Ziele sie hinführen wird. Sie haben hier, um die
Dinge in ihren rundesten Ausdruck zu fassen, zwei Parteien zu unterscheiden,
von denen die eine der Zahl nach gering, aber mit dem Sultan selbst an der
Spitze und unterstützt von . den bedeutendsten Kapacitäten die eigentlich re¬
gierende ist, außerdem den Einfluß der Westmächte und ihre materielle Unter¬
stützung hinter sich weiß, und darum kühn ist, — indeß die andere aus der
überwiegenden Masse des Volks und, es muß zugestanden werden, auch des
Heeres zusammengesetzt, und von den Corporationen der Geistlichen und Rechts-
gelehrten geführt wird. Mehemed Ali Pascha, der Schwager des Sultans,
und Mehemed Ruschdi, vormaliger Kriegsminister (Seriasker), waren ihre
seitherigen Chefs; aber sie sind, wie in Hinsicht auf die öffentlichen Geschäfte, so
auch in Rücksicht auf die Parteileitung letztlich mehr in den Hintergrund ge¬
treten, und so kann man annehmen, daß die eigentliche Führung zur Stunde
in den Händen des Scheik ni Islam (sprich: Schech lJslam) liegt. Dieser
Mann ist jedenfalls ein schlauer Priester, und es spricht für seine Gewandtheit,
daß er mit Tendenzen, welche denen des Gesammtministeriums schnurstracks
entgegenlaufen, auf dem wichtigen Posten eines Chefs der Kirche und Justiz
sich zu erhalten weiß.

Da auch unterdrückte politische Parteien nie ohne Hoffnungen sind, indem
mit diesen letztern selbstredend ihre Existenz aufhören müßte, so darf man an¬
nehmen, daß auch die Alttürken die ihrigen hegen, wie wenig Aussicht zu ihrer
Verwirklichung auch immerhin vorhanden sein mag. Vom Standpunkte
jener großen Fraction' sind die heutigen Vorgänge nur die Symptome einer
großen Krisis, deren Ausgang die Wiederzuehrenbringung und neue Macht-
entfaltung des Islam sein wird. Dieser Gedanke ist allgemein verbreitet; Sie
finden ihn nicht nur in aller Munde, wenn sie vor dem Kaffeehause auf dem
Hoizschemel hockend und den Tschibuck trinkend den Reden der dort Abends
sich ihren „Kees" machenden Kreise lauschen; auch die türkischen Knaben sprechen
ihn in ihren Schimpfreden gegen die Franken auf der Straße als Drohung
aus; Sie finden ihn heimisch in der Hütte und im Konak; und das nicht blos
in Stambul; im Norden und Süden des Balkan, in Anadoli und Cham
(Syrien), in Mise (Aegypten) und Arabistan träumen die Gläubigen davon,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/272>, abgerufen am 22.07.2024.