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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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unter fortwährendem Geklingel der russischen Kirchen das Gewühl russischer
Krämerei und das Geklapper russischer Industrie, welches seinen Hauptsammel¬
platz auf dem Trödelbazar findet, den sie, wie in Petersburg, Talkutschindwor
d. i. Läusemarkt nennen. Daneben ist der esthnische Bauernmarkt. Linksbin
aber liegt der Hafen mit seinem Treiben, die Admiralität, Kasernen, Spitäler,
vie Reperbahn u. s. w.

Dies alles ist jedoch nur zufällig in Reval, nicht im Werden und Sein
der Stadt bedingt. Dagegen wurde das Badeleben, obgleich erst seit 1840
gepflegt, bereits ein wichtiges Stück seines modernen Daseins. Die Bevölkerung
vermehrt sich dann in kurzer Jut um viele Hunderte, welche fast ausschließlich
von Petersburg herandampfen, nur ausnahmsweise durch den Landadel ver¬
stärkt werden. Und man braucht die Badecur eigentlich nur sehr beiläufig; die
Hauptsache bleibt, sich möglichst gut zu amüsiren. Dazu bietet indessen Reval
an sich wenig Gelegenheit. Hätte Peter I. nicht die Allee von der Stadt nach
dem aus dem Sand emporgezauberten Park von Katharinenthal angelegt, so
könnte die vergnügungslnstige Welt nicht einmal einen Corso etabliren. Dieser
ist indessen in der Seebadezeit fast in gleicher Weise wie in Homburg, Baden-
Baden oder Ostende hergestellt. So bleibt uns von seinem Wogen und Trei¬
ben zu Wagen, Pferd und Fuß, von seinen Musikbanden, Eisbuden, Tanzsälen
und Cönversationszimmern nichts zu erzählen., "ü'izst, Wut comme eko? rious.
Die dichten Parkgruppcn aber, welche das verlassene Zarenschloß Katharinen¬
thal und das wohlerhaltene Häuschen Peters umgeben, decken mit ihren
Schatten die aus dem Gewühl geflüchteten Geheimnisse. Die eigentliche innere
Stadt Reval ist dann noch stiller als sonst.

Sie hat ihre lebhafteste Zeit in der ersten Hälste des März, wo die "ge¬
meine Bezahlung" stattfindet, welche dem "Johannis" in Mitau und den
"Contracten" der polnischen Hauptstädte entspricht. Ehemals fand sie auch um
Johannis statt; seitdem aber die Creditkasse (1826) ihre Zahlungen auf März
und September verlegte, ist der Frühlingstermin der wichtigste geworden. Er
versammelt fast alle Gutsbesitzer des Landes in den Mauern der Stadt, da alle
Zahlungen, Pachtcontracte und selbst Familienabkommen auf diese Zeit gestellt
sind. Natürlich wird er dadurch auch die Periode der Bälle, Concerte und
sonstigen Vergnügungen; ein Jahrmarkt, der früher sehr bedeutend war, ver¬
bindet sich von selbst damit. Desto auffallender contrastirt aber mit diesem
Gewühl die letzte Hälste des März; und nicht vermehrte Masten in, Handels¬
hafen, sondern nur hin und wieder sichtbare Frachtwagen erinnern daran, das
Reval jetzt sein Hauptgeschäft abgethan hat. ^

Der Hafen ist überhaupt Nepals herbster Schmerz. Sein Dasein erinnert
fortwährend daran, was die Stadt gewesen, sein jetziger Zustand sagt, was sie
geworden. Von den Schweden war er trefflich angelegt, jetzt ragen nur


unter fortwährendem Geklingel der russischen Kirchen das Gewühl russischer
Krämerei und das Geklapper russischer Industrie, welches seinen Hauptsammel¬
platz auf dem Trödelbazar findet, den sie, wie in Petersburg, Talkutschindwor
d. i. Läusemarkt nennen. Daneben ist der esthnische Bauernmarkt. Linksbin
aber liegt der Hafen mit seinem Treiben, die Admiralität, Kasernen, Spitäler,
vie Reperbahn u. s. w.

Dies alles ist jedoch nur zufällig in Reval, nicht im Werden und Sein
der Stadt bedingt. Dagegen wurde das Badeleben, obgleich erst seit 1840
gepflegt, bereits ein wichtiges Stück seines modernen Daseins. Die Bevölkerung
vermehrt sich dann in kurzer Jut um viele Hunderte, welche fast ausschließlich
von Petersburg herandampfen, nur ausnahmsweise durch den Landadel ver¬
stärkt werden. Und man braucht die Badecur eigentlich nur sehr beiläufig; die
Hauptsache bleibt, sich möglichst gut zu amüsiren. Dazu bietet indessen Reval
an sich wenig Gelegenheit. Hätte Peter I. nicht die Allee von der Stadt nach
dem aus dem Sand emporgezauberten Park von Katharinenthal angelegt, so
könnte die vergnügungslnstige Welt nicht einmal einen Corso etabliren. Dieser
ist indessen in der Seebadezeit fast in gleicher Weise wie in Homburg, Baden-
Baden oder Ostende hergestellt. So bleibt uns von seinem Wogen und Trei¬
ben zu Wagen, Pferd und Fuß, von seinen Musikbanden, Eisbuden, Tanzsälen
und Cönversationszimmern nichts zu erzählen., «ü'izst, Wut comme eko? rious.
Die dichten Parkgruppcn aber, welche das verlassene Zarenschloß Katharinen¬
thal und das wohlerhaltene Häuschen Peters umgeben, decken mit ihren
Schatten die aus dem Gewühl geflüchteten Geheimnisse. Die eigentliche innere
Stadt Reval ist dann noch stiller als sonst.

Sie hat ihre lebhafteste Zeit in der ersten Hälste des März, wo die „ge¬
meine Bezahlung" stattfindet, welche dem „Johannis" in Mitau und den
„Contracten" der polnischen Hauptstädte entspricht. Ehemals fand sie auch um
Johannis statt; seitdem aber die Creditkasse (1826) ihre Zahlungen auf März
und September verlegte, ist der Frühlingstermin der wichtigste geworden. Er
versammelt fast alle Gutsbesitzer des Landes in den Mauern der Stadt, da alle
Zahlungen, Pachtcontracte und selbst Familienabkommen auf diese Zeit gestellt
sind. Natürlich wird er dadurch auch die Periode der Bälle, Concerte und
sonstigen Vergnügungen; ein Jahrmarkt, der früher sehr bedeutend war, ver¬
bindet sich von selbst damit. Desto auffallender contrastirt aber mit diesem
Gewühl die letzte Hälste des März; und nicht vermehrte Masten in, Handels¬
hafen, sondern nur hin und wieder sichtbare Frachtwagen erinnern daran, das
Reval jetzt sein Hauptgeschäft abgethan hat. ^

Der Hafen ist überhaupt Nepals herbster Schmerz. Sein Dasein erinnert
fortwährend daran, was die Stadt gewesen, sein jetziger Zustand sagt, was sie
geworden. Von den Schweden war er trefflich angelegt, jetzt ragen nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/140>, abgerufen am 24.08.2024.