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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Tiefe; um aus der einen in die andre zu gelangen, muß man fast stets ein
Paar Stufen steigen; fast immer schwitzen die Wände von feuchtem Gestein;
alterthümliche, gigantische Meubel verdüstern meistens den ohnehin düstern Raum.
So währt es dem Ungewohnten immer einige Zeit, ehe er sich hier behaglich fühlt.

Auch Art und Wesen der Nevalenserinnen ist etwas von dieser Hinter-
ftubenatmosphäre angeweht. Man sieht sie selten auf der Straße, noch seltener
auf einem Spaziergang und am allerseltensten ohne weibliche Handarbeit. Das
läuft sogar in Concerte und in das keineswegs schlechte deutsche Theater mit, welches
hier gewöhnlich seine Wintersaison abhält. Dabei meistens Mangelan geschmack¬
voller Eleganz der Kleidung, wenn auch prachtvolle Stoffe und reicher Schmuck
nicht fehlen; im Wesen und BeHaben eine gewisse nonnenhaste Schüchternheit
und der Ausdruck jener puritanischen Frommheit, die aus Mangel an weiteren
Interessen jeden Genuß der Lebensschönheit wie eine Sünde gegen ihren Schöpfer
ansieht. Die echten Nevalenserinnen sollen vortreffliche Mütter und Hausfrauen
sein. Aber unser modernes Geschlecht begnügt sich nun einmal nicht mit der
Geschicklichkeit im Einmachen der Killoströmlinge, in der Bereitung des Meth :c.

ES ist darum eine ganz natürliche Reaction, wenn neben solchen etwas
verblichenen Gewohnheiten und Sitten der weiblichen Bürgerkreise >in andern
Kreisen die Petersburger F>5rin und Lebensweise vollkommen in Herrschaft ge¬
setzt wurde. Und man kann es der Männerwelt kaum verdenken, wenn sie
sich im allgemeinen dieser Modernisirung mit Vorliebe zuwendet. Besonders gilt
dies von den Bewohnern der dem Hafen, den russischen Sloboden und den
Petersburger Seebadgästen näher gelegenen Straßen.

Hier lebt das moderne Reval mit dem welterfahrenen Theil seiner Bürger¬
schaft. Hier muß freilich auch jeder Versuch rascher Charakteristik erlahmen
und es wäre am Ende kaum lohnend, da wir es großentheils nicht mit na¬
türlich aus dem Boden gewachsenen Erscheinungen oder mit Resten unter¬
gehender Zustände, sondern mit weltmännisch angenommenen oder officiell auf¬
gepfropften Aeußerlichkeiten zu thun haben. Dem russischen Regiment sich cic-
commodiren, den Petersburger Sommergästen für möglichst viel Geld sich mög¬
lichst behaglich zeigen, das alte Reval vergessen, um es zur Petersburger Filiale
zu machen, das ist hier Lebensweisheit. Die Leute haben in ihrer Art auch
nicht unrecht. Neval kann nicht gegen den Strom schwimmen, dafür ist es zu
geschwächt; und würde außerdem als Seebad aus der Petersburger Mode
kommen, wenn es, wie einst eine Großfürstin bei seinem Anblick äußerte,
"parlaitemknt roooco" bleiben wollte. So etwas gefällt den verwöhnten Resi¬
denzlern für ein paar Tage, doch nicht lange.

In diesen Gegenden hört auch äußerlich das alte Neval auf. Ostwärts
läuft eS in die Nussenvmstadt aus, westwärts zerfasert es sich in militärische
und andre Anlagen mit großen wüsten Strecken dazwischen. Nechtöhin beginnt


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Tiefe; um aus der einen in die andre zu gelangen, muß man fast stets ein
Paar Stufen steigen; fast immer schwitzen die Wände von feuchtem Gestein;
alterthümliche, gigantische Meubel verdüstern meistens den ohnehin düstern Raum.
So währt es dem Ungewohnten immer einige Zeit, ehe er sich hier behaglich fühlt.

Auch Art und Wesen der Nevalenserinnen ist etwas von dieser Hinter-
ftubenatmosphäre angeweht. Man sieht sie selten auf der Straße, noch seltener
auf einem Spaziergang und am allerseltensten ohne weibliche Handarbeit. Das
läuft sogar in Concerte und in das keineswegs schlechte deutsche Theater mit, welches
hier gewöhnlich seine Wintersaison abhält. Dabei meistens Mangelan geschmack¬
voller Eleganz der Kleidung, wenn auch prachtvolle Stoffe und reicher Schmuck
nicht fehlen; im Wesen und BeHaben eine gewisse nonnenhaste Schüchternheit
und der Ausdruck jener puritanischen Frommheit, die aus Mangel an weiteren
Interessen jeden Genuß der Lebensschönheit wie eine Sünde gegen ihren Schöpfer
ansieht. Die echten Nevalenserinnen sollen vortreffliche Mütter und Hausfrauen
sein. Aber unser modernes Geschlecht begnügt sich nun einmal nicht mit der
Geschicklichkeit im Einmachen der Killoströmlinge, in der Bereitung des Meth :c.

ES ist darum eine ganz natürliche Reaction, wenn neben solchen etwas
verblichenen Gewohnheiten und Sitten der weiblichen Bürgerkreise >in andern
Kreisen die Petersburger F>5rin und Lebensweise vollkommen in Herrschaft ge¬
setzt wurde. Und man kann es der Männerwelt kaum verdenken, wenn sie
sich im allgemeinen dieser Modernisirung mit Vorliebe zuwendet. Besonders gilt
dies von den Bewohnern der dem Hafen, den russischen Sloboden und den
Petersburger Seebadgästen näher gelegenen Straßen.

Hier lebt das moderne Reval mit dem welterfahrenen Theil seiner Bürger¬
schaft. Hier muß freilich auch jeder Versuch rascher Charakteristik erlahmen
und es wäre am Ende kaum lohnend, da wir es großentheils nicht mit na¬
türlich aus dem Boden gewachsenen Erscheinungen oder mit Resten unter¬
gehender Zustände, sondern mit weltmännisch angenommenen oder officiell auf¬
gepfropften Aeußerlichkeiten zu thun haben. Dem russischen Regiment sich cic-
commodiren, den Petersburger Sommergästen für möglichst viel Geld sich mög¬
lichst behaglich zeigen, das alte Reval vergessen, um es zur Petersburger Filiale
zu machen, das ist hier Lebensweisheit. Die Leute haben in ihrer Art auch
nicht unrecht. Neval kann nicht gegen den Strom schwimmen, dafür ist es zu
geschwächt; und würde außerdem als Seebad aus der Petersburger Mode
kommen, wenn es, wie einst eine Großfürstin bei seinem Anblick äußerte,
„parlaitemknt roooco" bleiben wollte. So etwas gefällt den verwöhnten Resi¬
denzlern für ein paar Tage, doch nicht lange.

In diesen Gegenden hört auch äußerlich das alte Neval auf. Ostwärts
läuft eS in die Nussenvmstadt aus, westwärts zerfasert es sich in militärische
und andre Anlagen mit großen wüsten Strecken dazwischen. Nechtöhin beginnt


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[0139] Tiefe; um aus der einen in die andre zu gelangen, muß man fast stets ein Paar Stufen steigen; fast immer schwitzen die Wände von feuchtem Gestein; alterthümliche, gigantische Meubel verdüstern meistens den ohnehin düstern Raum. So währt es dem Ungewohnten immer einige Zeit, ehe er sich hier behaglich fühlt. Auch Art und Wesen der Nevalenserinnen ist etwas von dieser Hinter- ftubenatmosphäre angeweht. Man sieht sie selten auf der Straße, noch seltener auf einem Spaziergang und am allerseltensten ohne weibliche Handarbeit. Das läuft sogar in Concerte und in das keineswegs schlechte deutsche Theater mit, welches hier gewöhnlich seine Wintersaison abhält. Dabei meistens Mangelan geschmack¬ voller Eleganz der Kleidung, wenn auch prachtvolle Stoffe und reicher Schmuck nicht fehlen; im Wesen und BeHaben eine gewisse nonnenhaste Schüchternheit und der Ausdruck jener puritanischen Frommheit, die aus Mangel an weiteren Interessen jeden Genuß der Lebensschönheit wie eine Sünde gegen ihren Schöpfer ansieht. Die echten Nevalenserinnen sollen vortreffliche Mütter und Hausfrauen sein. Aber unser modernes Geschlecht begnügt sich nun einmal nicht mit der Geschicklichkeit im Einmachen der Killoströmlinge, in der Bereitung des Meth :c. ES ist darum eine ganz natürliche Reaction, wenn neben solchen etwas verblichenen Gewohnheiten und Sitten der weiblichen Bürgerkreise >in andern Kreisen die Petersburger F>5rin und Lebensweise vollkommen in Herrschaft ge¬ setzt wurde. Und man kann es der Männerwelt kaum verdenken, wenn sie sich im allgemeinen dieser Modernisirung mit Vorliebe zuwendet. Besonders gilt dies von den Bewohnern der dem Hafen, den russischen Sloboden und den Petersburger Seebadgästen näher gelegenen Straßen. Hier lebt das moderne Reval mit dem welterfahrenen Theil seiner Bürger¬ schaft. Hier muß freilich auch jeder Versuch rascher Charakteristik erlahmen und es wäre am Ende kaum lohnend, da wir es großentheils nicht mit na¬ türlich aus dem Boden gewachsenen Erscheinungen oder mit Resten unter¬ gehender Zustände, sondern mit weltmännisch angenommenen oder officiell auf¬ gepfropften Aeußerlichkeiten zu thun haben. Dem russischen Regiment sich cic- commodiren, den Petersburger Sommergästen für möglichst viel Geld sich mög¬ lichst behaglich zeigen, das alte Reval vergessen, um es zur Petersburger Filiale zu machen, das ist hier Lebensweisheit. Die Leute haben in ihrer Art auch nicht unrecht. Neval kann nicht gegen den Strom schwimmen, dafür ist es zu geschwächt; und würde außerdem als Seebad aus der Petersburger Mode kommen, wenn es, wie einst eine Großfürstin bei seinem Anblick äußerte, „parlaitemknt roooco" bleiben wollte. So etwas gefällt den verwöhnten Resi¬ denzlern für ein paar Tage, doch nicht lange. In diesen Gegenden hört auch äußerlich das alte Neval auf. Ostwärts läuft eS in die Nussenvmstadt aus, westwärts zerfasert es sich in militärische und andre Anlagen mit großen wüsten Strecken dazwischen. Nechtöhin beginnt 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/139>, abgerufen am 23.07.2024.