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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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man heute noch einen Stolz darein setzt, als freier Seigneur zu leben, immerhin
ein gewisser Zusammenhang zwischen Bauern und Herrn auch in den Städten
blieb. Dafür übernehmen es dort freilich die Juden, welche fast ein Sechs¬
theil der Bevölkerung aller Städte und Städtchen bilden, im unehrenhaften
Proletariate den vornehmen Passionen und Bedürfnissen zu dienen ....

Doch wohin verirren wir uns! Aus der Betrachtung des Katzenschwanzes
in Reval schwillt eine Erörterung über das baltische Proletariat der Städte
auf; und selbst nur eines Theiles. Denn auch in der Bürgerstadt und in
den Sloboden begegnen wir andern proletarischen Erscheinungen, wenn sie gleich
nicht so heißen. -- Wer mag sich irotzdem solcher Betrachtungen einschlagen,
wenn er aus dem Getriebe dieser Gassen emporblickt an den starraufsteigenden
Wänden des Domberges, der uns die übrige Stadt verdeckt und nur etwa
seitwärts den Blick auf die kahlen, gelblichgrauen Felsen des Laakberges offen
läßt, die sich bis ans Meer hinziehen und dort nur ?inen schmalen sandigen
Saum als unmittelbares Ufer vor sich herschieben. Man möchte glauben, in
unvordenklicher Zeit habe eine Sturmflut die Buchtung ausgerissen, in welcher
die Stadt vom Domberge zum Hafen hinabfließt, und der Domberg selbst stehe
als Monument dieser Entblößung der Grundfesten des Seenfers.

Er bildet eine kreisförmige Felsenbank, etwa zwanzig Minuten im Umfang.
Das Schloß des Gouverneurs nimmt seine Mitte ein und die Häuser des
Adels drängen sich darum. Auch nur des Adels; denn kein "Unadliger" darf
auf dem Domberge Grund und Boden erwerben; er hat sogar seine besondere
Gerichtsbarkeit. Die esthnischen Barone fühlen sich in dieser Absonderung auch
so wohl, daß hier jedes kleinste Stück Bauplatz mit 'den enormsten Preisen
bezahlt wird, um eine Wohnung im aristokratischen Kreise zu tragen, wenns
selbst in der engsten Gasse wäre oder hinter den Ruinen massenhafter Mauern
und Thürme, die ihren Platz seit jener Zeit behaupten, da der ganze Berg
vom dänischen Königöschlosse eingenommen war. Wer Geld hat, baut freilich
die Fronte ins Freie hinaus und so nah am Abstürze des'Felsens, daß vor
der Hauptfacade nicht einmal ein schmaler Fußsteig hinlaufen kann. Dafür
treten moderne Balkone oder alterthümliche Erker aus den Stockwerken über
die schwindelnde Tiefe hinaus; wenigstens fehlen die großen Aussichtsfenster,
welche in jedem eleganteren Petersburger Salon gewöhnlich, nur ausnahmsweise
einer außengelegenen Wohnung auf dem Domberge zu Reval.

Sie haben allerdings das vollste Recht; der Ausblick ist überraschend, in
manchen Beleuchtungen unbeschreiblich schön. Zwei Drittel der Blickweite
umfaßt die See, auf deren ferneren Breiten die Insel Nargen schwimmt, wäh¬
rend rechtshin (nordöstlich) die steilen Felsenufer der Hafenbucht allmälig in
die Wellen zu sinken scheinen, um dann in fernster Ferne nochmals mit einem
deutlichern Körper aufzutauchen. Dies sind die mit dem östlichen Lauberde


man heute noch einen Stolz darein setzt, als freier Seigneur zu leben, immerhin
ein gewisser Zusammenhang zwischen Bauern und Herrn auch in den Städten
blieb. Dafür übernehmen es dort freilich die Juden, welche fast ein Sechs¬
theil der Bevölkerung aller Städte und Städtchen bilden, im unehrenhaften
Proletariate den vornehmen Passionen und Bedürfnissen zu dienen ....

Doch wohin verirren wir uns! Aus der Betrachtung des Katzenschwanzes
in Reval schwillt eine Erörterung über das baltische Proletariat der Städte
auf; und selbst nur eines Theiles. Denn auch in der Bürgerstadt und in
den Sloboden begegnen wir andern proletarischen Erscheinungen, wenn sie gleich
nicht so heißen. — Wer mag sich irotzdem solcher Betrachtungen einschlagen,
wenn er aus dem Getriebe dieser Gassen emporblickt an den starraufsteigenden
Wänden des Domberges, der uns die übrige Stadt verdeckt und nur etwa
seitwärts den Blick auf die kahlen, gelblichgrauen Felsen des Laakberges offen
läßt, die sich bis ans Meer hinziehen und dort nur ?inen schmalen sandigen
Saum als unmittelbares Ufer vor sich herschieben. Man möchte glauben, in
unvordenklicher Zeit habe eine Sturmflut die Buchtung ausgerissen, in welcher
die Stadt vom Domberge zum Hafen hinabfließt, und der Domberg selbst stehe
als Monument dieser Entblößung der Grundfesten des Seenfers.

Er bildet eine kreisförmige Felsenbank, etwa zwanzig Minuten im Umfang.
Das Schloß des Gouverneurs nimmt seine Mitte ein und die Häuser des
Adels drängen sich darum. Auch nur des Adels; denn kein „Unadliger" darf
auf dem Domberge Grund und Boden erwerben; er hat sogar seine besondere
Gerichtsbarkeit. Die esthnischen Barone fühlen sich in dieser Absonderung auch
so wohl, daß hier jedes kleinste Stück Bauplatz mit 'den enormsten Preisen
bezahlt wird, um eine Wohnung im aristokratischen Kreise zu tragen, wenns
selbst in der engsten Gasse wäre oder hinter den Ruinen massenhafter Mauern
und Thürme, die ihren Platz seit jener Zeit behaupten, da der ganze Berg
vom dänischen Königöschlosse eingenommen war. Wer Geld hat, baut freilich
die Fronte ins Freie hinaus und so nah am Abstürze des'Felsens, daß vor
der Hauptfacade nicht einmal ein schmaler Fußsteig hinlaufen kann. Dafür
treten moderne Balkone oder alterthümliche Erker aus den Stockwerken über
die schwindelnde Tiefe hinaus; wenigstens fehlen die großen Aussichtsfenster,
welche in jedem eleganteren Petersburger Salon gewöhnlich, nur ausnahmsweise
einer außengelegenen Wohnung auf dem Domberge zu Reval.

Sie haben allerdings das vollste Recht; der Ausblick ist überraschend, in
manchen Beleuchtungen unbeschreiblich schön. Zwei Drittel der Blickweite
umfaßt die See, auf deren ferneren Breiten die Insel Nargen schwimmt, wäh¬
rend rechtshin (nordöstlich) die steilen Felsenufer der Hafenbucht allmälig in
die Wellen zu sinken scheinen, um dann in fernster Ferne nochmals mit einem
deutlichern Körper aufzutauchen. Dies sind die mit dem östlichen Lauberde


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[0134] man heute noch einen Stolz darein setzt, als freier Seigneur zu leben, immerhin ein gewisser Zusammenhang zwischen Bauern und Herrn auch in den Städten blieb. Dafür übernehmen es dort freilich die Juden, welche fast ein Sechs¬ theil der Bevölkerung aller Städte und Städtchen bilden, im unehrenhaften Proletariate den vornehmen Passionen und Bedürfnissen zu dienen .... Doch wohin verirren wir uns! Aus der Betrachtung des Katzenschwanzes in Reval schwillt eine Erörterung über das baltische Proletariat der Städte auf; und selbst nur eines Theiles. Denn auch in der Bürgerstadt und in den Sloboden begegnen wir andern proletarischen Erscheinungen, wenn sie gleich nicht so heißen. — Wer mag sich irotzdem solcher Betrachtungen einschlagen, wenn er aus dem Getriebe dieser Gassen emporblickt an den starraufsteigenden Wänden des Domberges, der uns die übrige Stadt verdeckt und nur etwa seitwärts den Blick auf die kahlen, gelblichgrauen Felsen des Laakberges offen läßt, die sich bis ans Meer hinziehen und dort nur ?inen schmalen sandigen Saum als unmittelbares Ufer vor sich herschieben. Man möchte glauben, in unvordenklicher Zeit habe eine Sturmflut die Buchtung ausgerissen, in welcher die Stadt vom Domberge zum Hafen hinabfließt, und der Domberg selbst stehe als Monument dieser Entblößung der Grundfesten des Seenfers. Er bildet eine kreisförmige Felsenbank, etwa zwanzig Minuten im Umfang. Das Schloß des Gouverneurs nimmt seine Mitte ein und die Häuser des Adels drängen sich darum. Auch nur des Adels; denn kein „Unadliger" darf auf dem Domberge Grund und Boden erwerben; er hat sogar seine besondere Gerichtsbarkeit. Die esthnischen Barone fühlen sich in dieser Absonderung auch so wohl, daß hier jedes kleinste Stück Bauplatz mit 'den enormsten Preisen bezahlt wird, um eine Wohnung im aristokratischen Kreise zu tragen, wenns selbst in der engsten Gasse wäre oder hinter den Ruinen massenhafter Mauern und Thürme, die ihren Platz seit jener Zeit behaupten, da der ganze Berg vom dänischen Königöschlosse eingenommen war. Wer Geld hat, baut freilich die Fronte ins Freie hinaus und so nah am Abstürze des'Felsens, daß vor der Hauptfacade nicht einmal ein schmaler Fußsteig hinlaufen kann. Dafür treten moderne Balkone oder alterthümliche Erker aus den Stockwerken über die schwindelnde Tiefe hinaus; wenigstens fehlen die großen Aussichtsfenster, welche in jedem eleganteren Petersburger Salon gewöhnlich, nur ausnahmsweise einer außengelegenen Wohnung auf dem Domberge zu Reval. Sie haben allerdings das vollste Recht; der Ausblick ist überraschend, in manchen Beleuchtungen unbeschreiblich schön. Zwei Drittel der Blickweite umfaßt die See, auf deren ferneren Breiten die Insel Nargen schwimmt, wäh¬ rend rechtshin (nordöstlich) die steilen Felsenufer der Hafenbucht allmälig in die Wellen zu sinken scheinen, um dann in fernster Ferne nochmals mit einem deutlichern Körper aufzutauchen. Dies sind die mit dem östlichen Lauberde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/134>, abgerufen am 22.07.2024.