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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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sammenhalten, der durch seine Ehrenhaftigkeit eine Art Proletarieradcl bildet
und vorzugsweise dadurch, daß er die roheste Offenbarung der Entsittlichung
in seinen Kreisen hindert, mildert, wenigstens verdeckt, eine Art Uebergang
und Vermittlung zur seßhaften Bürgerlichkeit unterhält -- von jenen Resten
ist hier keine Spur, weil wir es eben nicht mit moralischer oder socialer Ver¬
kommenheit zu thun haben, sondern mit einer Race, die losgelassenen Sträf¬
lingen gleich nicht in die Gemeinschaft eines geordneten Lebens zu dringen
vermag. Halten wir diese Entstehung des eingebornen Proletariats in den
baltischen Städten fest, so ist das äußere Wesen seiner Mitglieder, ihre Er¬
werbsart, ihr Verkehr, das Ansehen ihrer Wohnungen, die sie meistens auf er¬
bettelten Grund erbaueten, leicht zu abstrahiren. Es gibt nichts Widerlicheres,
als diese Theile der baltischen Städte, nichts Anekelnderes, als ihr Menschen¬
gewühl. Ein Gemisch von Niederträchtigkeit und Prostitution, von Unter-
thänigkeit und Sündenfrechheit, von Käuflichkeit des Heiligsten und heuchlerischer
Frommthuerei, von Heimlichkeit und Prahlerei, von Hochmuth auf eigne
Schlechtigkeit und Speichelleckerei gegen jedes unsaubere Gelüst -- wenns nur
Geld bringt. Zu was es in der Häßlichkeit seines physiognomischen Ausdrucks
in Reval schildern? Jede größere Stadt hat verrufene Winkel, in denen wir
ungefähr demselben äußern Ausdrucke der Bevölkerung begegnen; und wer
Paris oder London kennt, weiß von ganzen Quartieren zu erzählen. Nur
vertheilt sich dort auf Millionen, was in den baltischen Städten bis auf Mitau
herunter mit seinen kaum 20,000 Einwohnern (nach Hr. Ungewitter 29,000)
ganze Straßen gleichen Gepräges erschafft.

Es ist nicht zufällig, daß Riga, die größte und älteste der baltischen
Städte, verhältnißmäßig am wenigsten von dieser besondern Art des Proletariats
erblicken läßt. Denn Riga ist eben die einzige Stadt, in welcher das wahr¬
haft bürgerliche Element fortwährend bedingend blieb, bis erst die neueste Zeit
den tschinadligen und militärischen Charakter neben einer zahlreichen Russen¬
bevölkerung integrirend machte. Aber diese Charaktere tragen zur Entstehung
jenes specifischen Proletariats der "Altdeutschen und Halbdeutschen" lange nicht
in dem Maße bei, als jenes hochmögende Junkerthum der deutschen Herrn,
welches die Städte nur als Winterresivenzen, Kornbörsen, Bazare betrachtet
und namentlich den Bauer, weil er sich hier als Freier bewegt, mit
doppelter Rücksichtslosigkeit zum bloßen Instrument hinabdrückt. Man kann
bei genauer Kenntniß der Ostseeprovinzen selbst noch speciellere Bemerkungen
verfolgen. In Esthland, wo der Adel am frühesten seinen materiellen Wohl¬
stand einbüßte, darum am raschesten dem russischen Hof- und Staatsdienste
nachstreben mußte, wo sich also die Grundaristokratie am frühesten in ein ge¬
wöhnliches Junkerthum verkehrte, da ist die Entsittlichung der in die Städte
gezogenen Ureinwohner am weitesten vorgeschritten, während in Kurland, wo


sammenhalten, der durch seine Ehrenhaftigkeit eine Art Proletarieradcl bildet
und vorzugsweise dadurch, daß er die roheste Offenbarung der Entsittlichung
in seinen Kreisen hindert, mildert, wenigstens verdeckt, eine Art Uebergang
und Vermittlung zur seßhaften Bürgerlichkeit unterhält — von jenen Resten
ist hier keine Spur, weil wir es eben nicht mit moralischer oder socialer Ver¬
kommenheit zu thun haben, sondern mit einer Race, die losgelassenen Sträf¬
lingen gleich nicht in die Gemeinschaft eines geordneten Lebens zu dringen
vermag. Halten wir diese Entstehung des eingebornen Proletariats in den
baltischen Städten fest, so ist das äußere Wesen seiner Mitglieder, ihre Er¬
werbsart, ihr Verkehr, das Ansehen ihrer Wohnungen, die sie meistens auf er¬
bettelten Grund erbaueten, leicht zu abstrahiren. Es gibt nichts Widerlicheres,
als diese Theile der baltischen Städte, nichts Anekelnderes, als ihr Menschen¬
gewühl. Ein Gemisch von Niederträchtigkeit und Prostitution, von Unter-
thänigkeit und Sündenfrechheit, von Käuflichkeit des Heiligsten und heuchlerischer
Frommthuerei, von Heimlichkeit und Prahlerei, von Hochmuth auf eigne
Schlechtigkeit und Speichelleckerei gegen jedes unsaubere Gelüst — wenns nur
Geld bringt. Zu was es in der Häßlichkeit seines physiognomischen Ausdrucks
in Reval schildern? Jede größere Stadt hat verrufene Winkel, in denen wir
ungefähr demselben äußern Ausdrucke der Bevölkerung begegnen; und wer
Paris oder London kennt, weiß von ganzen Quartieren zu erzählen. Nur
vertheilt sich dort auf Millionen, was in den baltischen Städten bis auf Mitau
herunter mit seinen kaum 20,000 Einwohnern (nach Hr. Ungewitter 29,000)
ganze Straßen gleichen Gepräges erschafft.

Es ist nicht zufällig, daß Riga, die größte und älteste der baltischen
Städte, verhältnißmäßig am wenigsten von dieser besondern Art des Proletariats
erblicken läßt. Denn Riga ist eben die einzige Stadt, in welcher das wahr¬
haft bürgerliche Element fortwährend bedingend blieb, bis erst die neueste Zeit
den tschinadligen und militärischen Charakter neben einer zahlreichen Russen¬
bevölkerung integrirend machte. Aber diese Charaktere tragen zur Entstehung
jenes specifischen Proletariats der „Altdeutschen und Halbdeutschen" lange nicht
in dem Maße bei, als jenes hochmögende Junkerthum der deutschen Herrn,
welches die Städte nur als Winterresivenzen, Kornbörsen, Bazare betrachtet
und namentlich den Bauer, weil er sich hier als Freier bewegt, mit
doppelter Rücksichtslosigkeit zum bloßen Instrument hinabdrückt. Man kann
bei genauer Kenntniß der Ostseeprovinzen selbst noch speciellere Bemerkungen
verfolgen. In Esthland, wo der Adel am frühesten seinen materiellen Wohl¬
stand einbüßte, darum am raschesten dem russischen Hof- und Staatsdienste
nachstreben mußte, wo sich also die Grundaristokratie am frühesten in ein ge¬
wöhnliches Junkerthum verkehrte, da ist die Entsittlichung der in die Städte
gezogenen Ureinwohner am weitesten vorgeschritten, während in Kurland, wo


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/133>, abgerufen am 22.07.2024.