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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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der Bucht fast zusammenhängenden Inseln Wulffen. Linkshin (nordwestlich)
ist der Blick etwas begrenzter, da hier das Land sich weniger weit in die
Fluten hinausschiebt und die Karlsinseln schützend vor den Kriegshafen treten.
Unmittelbar unter den Fenstern liegt die geschäftige, rauchende Stadt. Hier
uno dort blickt man unmittelbar in das Straßengetreibe. Zwischen den alter¬
thümlichen Giebeln mit allerlei Schnörkelwerk und Verzierungen ziehen sich auch
dort alte Fortisicationslinien hin, hier und da ragt Dach und Thurm einer
lutherischen- Kirche aus dem Häuserknäuel empor; fremdartig wölben sich die
byzantinischen Formen der russischen Gotteshäuser über mittelalterlichen und
gothischen Unterbauten. Dort und da grünt wol auch ein Baum im Häusergrau,
und wo die Menschenwohnungen aus den sieben Thoren Nepals in regel¬
mäßigeren und, breiteren Straßen hinausquellen, da bleiben die russischen
Kolokolniks (Glockenthürme) allein noch übrig als Erhabenheiten über die breit¬
angelegten, niedern, geschmacklosen Russenhäuser. Vom Hasen erkennt man
nur einzelne Dachfirste, von den ankernden Schissen blos die Mastspitzen.
Dichter gedrängt und ansehnlicher sind sie im Kriegshafen, verstreuter und un¬
ansehnlicher im Kauffartcihafen.

Zu diesem lebensvollen Bilde bilden die eignen Straßen des Dombergs
einen wunderbaren Gegensatz. Nur um den Palast des Gouverneurs', vor
welchem natürlich die Wachen nicht fehlen, bewegt sich regeres Fußgängerleben;
doch lauter unisormirte Menschen, unmittelbare Diener der Staatsmacht. Die¬
selbe eigenthümliche Stille, wie in den Diplomatenstraßen der künstlich empor¬
gepflegten Residenzen Deutschlands waltet in den übrigen Gassen, deren vor¬
nehme Häuser tagsüber ihre Fenster meistens verhängen, um am Abende breite
Lichtgarben durch die Spalten der Vorhänge aus die harrenden Equipagen
hinabzuwerfen. Wer hier oben wohnt, geht nicht zu Fuß, wenigstens nur
ausnahmsweise und noch seltner öffentlich, obgleich man vom äußersten Rande
des Dombergs zum entgegengesetzten nicht länger als 3--4 Minuten zu gehen
hat. Die Gestalten, welche halb verstohlen von einer Hausthür zur andern
schlüpfen, gehören zum Dienst der Aristokratie. Nur rollende Wagen und
klappernde Noßtritle bilden den Straßenlärm und Petersburger Bespannung
mit unendlich langgeschirrtem Postzuge, zwcrgigem Vorreiter und russischem
Kutscher gehört unnachsichtlich zum guten Ton.

Man ist überhaupt in Esthland und speciell in Reval in sklavischer Nach¬
ahmung der Petersburger Mo/de viel peinlicher, als in Liv- und Kurland.
Freilich ist man auch nur etwa 40 Meilen von der Zarenresidenz entfernt, mit
familienhaften und dienstlichen Beziehungen fast ausnahmslos dahin gewiesen
und selbst im Bürgerstande großentheils auf die Petersburger Erwerbsquellen
angewiesen. Es herrscht darum in der Geselligkeit des Adels kaum ausnahms¬
weise jener wahrhaft vornehme, dennoch so liebenswürdig ungezwungene Ton,


der Bucht fast zusammenhängenden Inseln Wulffen. Linkshin (nordwestlich)
ist der Blick etwas begrenzter, da hier das Land sich weniger weit in die
Fluten hinausschiebt und die Karlsinseln schützend vor den Kriegshafen treten.
Unmittelbar unter den Fenstern liegt die geschäftige, rauchende Stadt. Hier
uno dort blickt man unmittelbar in das Straßengetreibe. Zwischen den alter¬
thümlichen Giebeln mit allerlei Schnörkelwerk und Verzierungen ziehen sich auch
dort alte Fortisicationslinien hin, hier und da ragt Dach und Thurm einer
lutherischen- Kirche aus dem Häuserknäuel empor; fremdartig wölben sich die
byzantinischen Formen der russischen Gotteshäuser über mittelalterlichen und
gothischen Unterbauten. Dort und da grünt wol auch ein Baum im Häusergrau,
und wo die Menschenwohnungen aus den sieben Thoren Nepals in regel¬
mäßigeren und, breiteren Straßen hinausquellen, da bleiben die russischen
Kolokolniks (Glockenthürme) allein noch übrig als Erhabenheiten über die breit¬
angelegten, niedern, geschmacklosen Russenhäuser. Vom Hasen erkennt man
nur einzelne Dachfirste, von den ankernden Schissen blos die Mastspitzen.
Dichter gedrängt und ansehnlicher sind sie im Kriegshafen, verstreuter und un¬
ansehnlicher im Kauffartcihafen.

Zu diesem lebensvollen Bilde bilden die eignen Straßen des Dombergs
einen wunderbaren Gegensatz. Nur um den Palast des Gouverneurs', vor
welchem natürlich die Wachen nicht fehlen, bewegt sich regeres Fußgängerleben;
doch lauter unisormirte Menschen, unmittelbare Diener der Staatsmacht. Die¬
selbe eigenthümliche Stille, wie in den Diplomatenstraßen der künstlich empor¬
gepflegten Residenzen Deutschlands waltet in den übrigen Gassen, deren vor¬
nehme Häuser tagsüber ihre Fenster meistens verhängen, um am Abende breite
Lichtgarben durch die Spalten der Vorhänge aus die harrenden Equipagen
hinabzuwerfen. Wer hier oben wohnt, geht nicht zu Fuß, wenigstens nur
ausnahmsweise und noch seltner öffentlich, obgleich man vom äußersten Rande
des Dombergs zum entgegengesetzten nicht länger als 3—4 Minuten zu gehen
hat. Die Gestalten, welche halb verstohlen von einer Hausthür zur andern
schlüpfen, gehören zum Dienst der Aristokratie. Nur rollende Wagen und
klappernde Noßtritle bilden den Straßenlärm und Petersburger Bespannung
mit unendlich langgeschirrtem Postzuge, zwcrgigem Vorreiter und russischem
Kutscher gehört unnachsichtlich zum guten Ton.

Man ist überhaupt in Esthland und speciell in Reval in sklavischer Nach¬
ahmung der Petersburger Mo/de viel peinlicher, als in Liv- und Kurland.
Freilich ist man auch nur etwa 40 Meilen von der Zarenresidenz entfernt, mit
familienhaften und dienstlichen Beziehungen fast ausnahmslos dahin gewiesen
und selbst im Bürgerstande großentheils auf die Petersburger Erwerbsquellen
angewiesen. Es herrscht darum in der Geselligkeit des Adels kaum ausnahms¬
weise jener wahrhaft vornehme, dennoch so liebenswürdig ungezwungene Ton,


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[0135] der Bucht fast zusammenhängenden Inseln Wulffen. Linkshin (nordwestlich) ist der Blick etwas begrenzter, da hier das Land sich weniger weit in die Fluten hinausschiebt und die Karlsinseln schützend vor den Kriegshafen treten. Unmittelbar unter den Fenstern liegt die geschäftige, rauchende Stadt. Hier uno dort blickt man unmittelbar in das Straßengetreibe. Zwischen den alter¬ thümlichen Giebeln mit allerlei Schnörkelwerk und Verzierungen ziehen sich auch dort alte Fortisicationslinien hin, hier und da ragt Dach und Thurm einer lutherischen- Kirche aus dem Häuserknäuel empor; fremdartig wölben sich die byzantinischen Formen der russischen Gotteshäuser über mittelalterlichen und gothischen Unterbauten. Dort und da grünt wol auch ein Baum im Häusergrau, und wo die Menschenwohnungen aus den sieben Thoren Nepals in regel¬ mäßigeren und, breiteren Straßen hinausquellen, da bleiben die russischen Kolokolniks (Glockenthürme) allein noch übrig als Erhabenheiten über die breit¬ angelegten, niedern, geschmacklosen Russenhäuser. Vom Hasen erkennt man nur einzelne Dachfirste, von den ankernden Schissen blos die Mastspitzen. Dichter gedrängt und ansehnlicher sind sie im Kriegshafen, verstreuter und un¬ ansehnlicher im Kauffartcihafen. Zu diesem lebensvollen Bilde bilden die eignen Straßen des Dombergs einen wunderbaren Gegensatz. Nur um den Palast des Gouverneurs', vor welchem natürlich die Wachen nicht fehlen, bewegt sich regeres Fußgängerleben; doch lauter unisormirte Menschen, unmittelbare Diener der Staatsmacht. Die¬ selbe eigenthümliche Stille, wie in den Diplomatenstraßen der künstlich empor¬ gepflegten Residenzen Deutschlands waltet in den übrigen Gassen, deren vor¬ nehme Häuser tagsüber ihre Fenster meistens verhängen, um am Abende breite Lichtgarben durch die Spalten der Vorhänge aus die harrenden Equipagen hinabzuwerfen. Wer hier oben wohnt, geht nicht zu Fuß, wenigstens nur ausnahmsweise und noch seltner öffentlich, obgleich man vom äußersten Rande des Dombergs zum entgegengesetzten nicht länger als 3—4 Minuten zu gehen hat. Die Gestalten, welche halb verstohlen von einer Hausthür zur andern schlüpfen, gehören zum Dienst der Aristokratie. Nur rollende Wagen und klappernde Noßtritle bilden den Straßenlärm und Petersburger Bespannung mit unendlich langgeschirrtem Postzuge, zwcrgigem Vorreiter und russischem Kutscher gehört unnachsichtlich zum guten Ton. Man ist überhaupt in Esthland und speciell in Reval in sklavischer Nach¬ ahmung der Petersburger Mo/de viel peinlicher, als in Liv- und Kurland. Freilich ist man auch nur etwa 40 Meilen von der Zarenresidenz entfernt, mit familienhaften und dienstlichen Beziehungen fast ausnahmslos dahin gewiesen und selbst im Bürgerstande großentheils auf die Petersburger Erwerbsquellen angewiesen. Es herrscht darum in der Geselligkeit des Adels kaum ausnahms¬ weise jener wahrhaft vornehme, dennoch so liebenswürdig ungezwungene Ton,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/135>, abgerufen am 22.07.2024.