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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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lande, nicht vorzugsweise durch Matrosen und sonstige Gesellen des Schiffs¬
verkehrs. Aber es bildet sich in den baltischen Städten, theilweise auch in
den russischen, anders als im übrigen Europa, Die persönliche Freiheit der
Stammvölker der Ostseeprovinzen ist noch sehr jung; die ehemals Leibeigenen
sind noch heute ohne Grundbesitz, das Leben des ganzen Landes beruht dagegen
fast ausschließlich auf dem Bodenbau, die Städte waren und sind fortwährend
gewissermaßen erotische Gebilde, keine organischen Theile des Landes. Nicht
blos der Adel ist darum eine vom Volk abgeschiedene Kaste, auch der. deutsche
Stadtbürger stellt sich unnahbar darüber. Das Volk hat nun den alten
Haß gegen den Adel aus der alten Unterthänigkeit fortgeerbt und muß ent¬
weder factisch die alten Leibeigenschaftsfesseln forttragen, wenn es in den ge¬
wohnten Arbeiten fortleben will, oder es sieht sich überall fortgestoßen und
findet arbeitsuchend in der Stadt nicht einmal das Annäherungsmittel der
gemeinsamen Sprache an die gewerbtreibenden, arbeitgebenden Classen. Die
Industrie steht überdies in keiner baltischen Stadt in solcher Herrschaft, um
solche Trennungen zu überwinden oder ihren Angehörigen wieder jenes gewisse
Gemeinsamkeitsbewußtsein zu geben, wie es sich in den Arbeiterclassen wirklicher
Fabrikstädte zü entwickeln pflegt. Eine nähere Beziehung fühlen sie einzig zu
den gleich ihnen auf gut Glück herangewanderten Russenscharen; es ist die un¬
bewußte Sympathie gleichartiger Lebensbedingungen in der Vergangenheit wie
für die Zukunft. Denn auch die Russen sind meistens nur auf Arbeitspaß
entlassene Leibeigene. -- Aber den Letten, Esthen und Finnen fehlt jenes tech¬
nische Talent, womit die Russen, wenn sie nicht lieber kräinernd und hausirend
erwerben, sehr rasch den zünftigen Handwerkern eine gefährliche Concurrenz zu
machen wissen. Und wenn ers hä.ete, so fehlt ihm vor allem der russische Asso¬
ciationstrieb, jenes nationale Erbe des altslawischen Gemeindelcbens, welcher
selbst die fremdesten Stammgenossen in den städtischen Sammelpunkten sofort
zum fabrikmäßigen Betriebe des einen oder andern Gewerbes in Compagnien
socialistischen Charakters vereint. Hätte ein Lette, Esthe und Finne selbst ein-
' mal ausnahmsweise diesen Trieb, so würde ihn doch zunächst die Sprach-
unkenntniß von solchen russischen Associationen fernhalten; und überdies
sind die sonst so zugänglichen Russe" in dieser einen Richtung vollkommen
schwäbisch crclusiv. So bleibt den baltischen "Altdeutschen" meistens nichts,
als Handlanger der russischen Thätigkeit zu werden, während die baltischen
"Halbdeutschcn" (d. i. solche, welche sich deutsch zu verständigen wissen) sich
theils dem Luxus des Stadtadels, theils ben niedeistcn Dienstbedürfnissen der
Bürger zu Gebote stellen. Auf solche Art entsteht nun daS Proletariat der
baltischen Städte; es ist durch die Art seiner Entstehung von vornherein ver¬
derbt bis in die tiefste Tiefe seines Daseins. Von jenen Resten bürgerlichen
Gefühls, die in Europas Proletarierherden doch immer noch einen Kern zu-


lande, nicht vorzugsweise durch Matrosen und sonstige Gesellen des Schiffs¬
verkehrs. Aber es bildet sich in den baltischen Städten, theilweise auch in
den russischen, anders als im übrigen Europa, Die persönliche Freiheit der
Stammvölker der Ostseeprovinzen ist noch sehr jung; die ehemals Leibeigenen
sind noch heute ohne Grundbesitz, das Leben des ganzen Landes beruht dagegen
fast ausschließlich auf dem Bodenbau, die Städte waren und sind fortwährend
gewissermaßen erotische Gebilde, keine organischen Theile des Landes. Nicht
blos der Adel ist darum eine vom Volk abgeschiedene Kaste, auch der. deutsche
Stadtbürger stellt sich unnahbar darüber. Das Volk hat nun den alten
Haß gegen den Adel aus der alten Unterthänigkeit fortgeerbt und muß ent¬
weder factisch die alten Leibeigenschaftsfesseln forttragen, wenn es in den ge¬
wohnten Arbeiten fortleben will, oder es sieht sich überall fortgestoßen und
findet arbeitsuchend in der Stadt nicht einmal das Annäherungsmittel der
gemeinsamen Sprache an die gewerbtreibenden, arbeitgebenden Classen. Die
Industrie steht überdies in keiner baltischen Stadt in solcher Herrschaft, um
solche Trennungen zu überwinden oder ihren Angehörigen wieder jenes gewisse
Gemeinsamkeitsbewußtsein zu geben, wie es sich in den Arbeiterclassen wirklicher
Fabrikstädte zü entwickeln pflegt. Eine nähere Beziehung fühlen sie einzig zu
den gleich ihnen auf gut Glück herangewanderten Russenscharen; es ist die un¬
bewußte Sympathie gleichartiger Lebensbedingungen in der Vergangenheit wie
für die Zukunft. Denn auch die Russen sind meistens nur auf Arbeitspaß
entlassene Leibeigene. — Aber den Letten, Esthen und Finnen fehlt jenes tech¬
nische Talent, womit die Russen, wenn sie nicht lieber kräinernd und hausirend
erwerben, sehr rasch den zünftigen Handwerkern eine gefährliche Concurrenz zu
machen wissen. Und wenn ers hä.ete, so fehlt ihm vor allem der russische Asso¬
ciationstrieb, jenes nationale Erbe des altslawischen Gemeindelcbens, welcher
selbst die fremdesten Stammgenossen in den städtischen Sammelpunkten sofort
zum fabrikmäßigen Betriebe des einen oder andern Gewerbes in Compagnien
socialistischen Charakters vereint. Hätte ein Lette, Esthe und Finne selbst ein-
' mal ausnahmsweise diesen Trieb, so würde ihn doch zunächst die Sprach-
unkenntniß von solchen russischen Associationen fernhalten; und überdies
sind die sonst so zugänglichen Russe» in dieser einen Richtung vollkommen
schwäbisch crclusiv. So bleibt den baltischen „Altdeutschen" meistens nichts,
als Handlanger der russischen Thätigkeit zu werden, während die baltischen
„Halbdeutschcn" (d. i. solche, welche sich deutsch zu verständigen wissen) sich
theils dem Luxus des Stadtadels, theils ben niedeistcn Dienstbedürfnissen der
Bürger zu Gebote stellen. Auf solche Art entsteht nun daS Proletariat der
baltischen Städte; es ist durch die Art seiner Entstehung von vornherein ver¬
derbt bis in die tiefste Tiefe seines Daseins. Von jenen Resten bürgerlichen
Gefühls, die in Europas Proletarierherden doch immer noch einen Kern zu-


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[0132] lande, nicht vorzugsweise durch Matrosen und sonstige Gesellen des Schiffs¬ verkehrs. Aber es bildet sich in den baltischen Städten, theilweise auch in den russischen, anders als im übrigen Europa, Die persönliche Freiheit der Stammvölker der Ostseeprovinzen ist noch sehr jung; die ehemals Leibeigenen sind noch heute ohne Grundbesitz, das Leben des ganzen Landes beruht dagegen fast ausschließlich auf dem Bodenbau, die Städte waren und sind fortwährend gewissermaßen erotische Gebilde, keine organischen Theile des Landes. Nicht blos der Adel ist darum eine vom Volk abgeschiedene Kaste, auch der. deutsche Stadtbürger stellt sich unnahbar darüber. Das Volk hat nun den alten Haß gegen den Adel aus der alten Unterthänigkeit fortgeerbt und muß ent¬ weder factisch die alten Leibeigenschaftsfesseln forttragen, wenn es in den ge¬ wohnten Arbeiten fortleben will, oder es sieht sich überall fortgestoßen und findet arbeitsuchend in der Stadt nicht einmal das Annäherungsmittel der gemeinsamen Sprache an die gewerbtreibenden, arbeitgebenden Classen. Die Industrie steht überdies in keiner baltischen Stadt in solcher Herrschaft, um solche Trennungen zu überwinden oder ihren Angehörigen wieder jenes gewisse Gemeinsamkeitsbewußtsein zu geben, wie es sich in den Arbeiterclassen wirklicher Fabrikstädte zü entwickeln pflegt. Eine nähere Beziehung fühlen sie einzig zu den gleich ihnen auf gut Glück herangewanderten Russenscharen; es ist die un¬ bewußte Sympathie gleichartiger Lebensbedingungen in der Vergangenheit wie für die Zukunft. Denn auch die Russen sind meistens nur auf Arbeitspaß entlassene Leibeigene. — Aber den Letten, Esthen und Finnen fehlt jenes tech¬ nische Talent, womit die Russen, wenn sie nicht lieber kräinernd und hausirend erwerben, sehr rasch den zünftigen Handwerkern eine gefährliche Concurrenz zu machen wissen. Und wenn ers hä.ete, so fehlt ihm vor allem der russische Asso¬ ciationstrieb, jenes nationale Erbe des altslawischen Gemeindelcbens, welcher selbst die fremdesten Stammgenossen in den städtischen Sammelpunkten sofort zum fabrikmäßigen Betriebe des einen oder andern Gewerbes in Compagnien socialistischen Charakters vereint. Hätte ein Lette, Esthe und Finne selbst ein- ' mal ausnahmsweise diesen Trieb, so würde ihn doch zunächst die Sprach- unkenntniß von solchen russischen Associationen fernhalten; und überdies sind die sonst so zugänglichen Russe» in dieser einen Richtung vollkommen schwäbisch crclusiv. So bleibt den baltischen „Altdeutschen" meistens nichts, als Handlanger der russischen Thätigkeit zu werden, während die baltischen „Halbdeutschcn" (d. i. solche, welche sich deutsch zu verständigen wissen) sich theils dem Luxus des Stadtadels, theils ben niedeistcn Dienstbedürfnissen der Bürger zu Gebote stellen. Auf solche Art entsteht nun daS Proletariat der baltischen Städte; es ist durch die Art seiner Entstehung von vornherein ver¬ derbt bis in die tiefste Tiefe seines Daseins. Von jenen Resten bürgerlichen Gefühls, die in Europas Proletarierherden doch immer noch einen Kern zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/132>, abgerufen am 22.07.2024.