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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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hat. Lindanissa lautete deren wohlklingender Name. Ein Vorgänger Walde-
mars machte daraus ein dänisches Königsschloß und baute daneben ein frommes
Kloster. Das ward später Theil der Stadt wie. der Domberg. Mit Festungs-
mauern und neuen Häusern überbaueten sich die ruinenhaften Reste, ohne ganz
zu verschwinden. Die Mauern, selbst sanken hier und da zusammen, während
anderwärts noch ihre trotzigen Thürme ragen und den zusammengedrängten
Haufen schloßähnlicher Gebäude auf dem Domberge doch nicht erreichen, so
daß dieser wie ein Kronschmuck über den grauen verwitterten Baumassen
schimmert. Bürgerlich einfach, aber weithin sichtbar und' den Schiffern selbst
das erste Wahrzeichen des nahen Hafens, schießt aus der niederen Bürgerstadt
der Thurm der ältesten, fünfmal zertrümmerten und wieder gebauten Se. Olai-
kirche empor, von dem die Deutschrussen behaupten, er stehe dem Straßburger
Münster nur um 16 und der Peterskirche in Rom nur um S8 Fuß an Höhe
nach. Dies ist möglich; allein die einfache Spitze hat im Totalanblicke der so
recht streitkräftig anzusehenden Stadt etwas Störendes. Sie steht in keinem
Verhältniß zu den frommen Glockenthürmen der andern 1A Kirchen -- unter
denen natürlich schon fünf oder sechs russische --; vollends nicht zu den kriegeri¬
schen Mauerthürmen mit ihren stumpfen Kränzen.

Nach seiner Bevölkerungsmenge nimmt Reval im russischen Reiche die
fünfundzwanzigste Stelle ein; es zählt etwas Der 24,000 Einwohner, von
denen der Ac>el fast ausschließlich den Domberg besetzt, während die ganz
deutsche Bürgerschaft den eigentlichen Stadtkern bewohnt, die russischen An-
wanderer aber, wie überall in den Ostseeprovinzen, breitstraßige Vorstädte,
(Sloboden) am Meeresufer hinausbaueten.*) Diese drei Bevölkerungsschichten
geben bei näherer Betrachtung der Stadt drei ganz verschiedene Physiognomien.
Man muß selbst noch einen vierten besondern Stadttheil abscheiden, der vom
Domberge rückwärts in drei Straßen ausläuft und officiell die neue Gasse, im
Munde des Volkes dagegen der Katzenschwanz genannt wird. Es ist daS
Proletarierviertel.

Wir dürfen dabei nicht eigentlich an das Proletariat unsrer deutschen '
Binnenstädte denken. Nicht etwa deshalb, weil wir es mit einer Seestadt zu
thun haben. Denn allerdings bildet sich hier das Proletariat aus dem Flach-



*) Herr Dr. F. H. Ungewitter hat (bei Adler u. Dictze in Dresden) soeben eine "Neueste
Erdbeschreibung und Staatenkunde" ze, in 3. vermehrter und "verbesserter" Auflage heraus¬
gegeben. Nach seinem Principe, Nußland wie überhaupt, so auch statistisch zu verherrlichen,
übervölkert er es in demselben Maße, als er andere Länder, z. B. die Türkei, Schweiz u. s. w.
mit den schwärzesten Farben und im Zustande äußerster Zerrüttung schildert. Reval gibt er
30,00i) Einw., während alle Quelle", besonders anch der Petersburger Kalender der Akademie
nur Si'.gi'l zählen. Von Herrn Ungewitters "großem und schönem Handelshafen" bei Reval
ist später die Rede. Man darf solche Bücher, welche anscheinend ganz objectiv gehalten sind,
nicht außer Acht lassen.
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hat. Lindanissa lautete deren wohlklingender Name. Ein Vorgänger Walde-
mars machte daraus ein dänisches Königsschloß und baute daneben ein frommes
Kloster. Das ward später Theil der Stadt wie. der Domberg. Mit Festungs-
mauern und neuen Häusern überbaueten sich die ruinenhaften Reste, ohne ganz
zu verschwinden. Die Mauern, selbst sanken hier und da zusammen, während
anderwärts noch ihre trotzigen Thürme ragen und den zusammengedrängten
Haufen schloßähnlicher Gebäude auf dem Domberge doch nicht erreichen, so
daß dieser wie ein Kronschmuck über den grauen verwitterten Baumassen
schimmert. Bürgerlich einfach, aber weithin sichtbar und' den Schiffern selbst
das erste Wahrzeichen des nahen Hafens, schießt aus der niederen Bürgerstadt
der Thurm der ältesten, fünfmal zertrümmerten und wieder gebauten Se. Olai-
kirche empor, von dem die Deutschrussen behaupten, er stehe dem Straßburger
Münster nur um 16 und der Peterskirche in Rom nur um S8 Fuß an Höhe
nach. Dies ist möglich; allein die einfache Spitze hat im Totalanblicke der so
recht streitkräftig anzusehenden Stadt etwas Störendes. Sie steht in keinem
Verhältniß zu den frommen Glockenthürmen der andern 1A Kirchen — unter
denen natürlich schon fünf oder sechs russische —; vollends nicht zu den kriegeri¬
schen Mauerthürmen mit ihren stumpfen Kränzen.

Nach seiner Bevölkerungsmenge nimmt Reval im russischen Reiche die
fünfundzwanzigste Stelle ein; es zählt etwas Der 24,000 Einwohner, von
denen der Ac>el fast ausschließlich den Domberg besetzt, während die ganz
deutsche Bürgerschaft den eigentlichen Stadtkern bewohnt, die russischen An-
wanderer aber, wie überall in den Ostseeprovinzen, breitstraßige Vorstädte,
(Sloboden) am Meeresufer hinausbaueten.*) Diese drei Bevölkerungsschichten
geben bei näherer Betrachtung der Stadt drei ganz verschiedene Physiognomien.
Man muß selbst noch einen vierten besondern Stadttheil abscheiden, der vom
Domberge rückwärts in drei Straßen ausläuft und officiell die neue Gasse, im
Munde des Volkes dagegen der Katzenschwanz genannt wird. Es ist daS
Proletarierviertel.

Wir dürfen dabei nicht eigentlich an das Proletariat unsrer deutschen '
Binnenstädte denken. Nicht etwa deshalb, weil wir es mit einer Seestadt zu
thun haben. Denn allerdings bildet sich hier das Proletariat aus dem Flach-



*) Herr Dr. F. H. Ungewitter hat (bei Adler u. Dictze in Dresden) soeben eine „Neueste
Erdbeschreibung und Staatenkunde" ze, in 3. vermehrter und „verbesserter" Auflage heraus¬
gegeben. Nach seinem Principe, Nußland wie überhaupt, so auch statistisch zu verherrlichen,
übervölkert er es in demselben Maße, als er andere Länder, z. B. die Türkei, Schweiz u. s. w.
mit den schwärzesten Farben und im Zustande äußerster Zerrüttung schildert. Reval gibt er
30,00i) Einw., während alle Quelle», besonders anch der Petersburger Kalender der Akademie
nur Si'.gi'l zählen. Von Herrn Ungewitters „großem und schönem Handelshafen" bei Reval
ist später die Rede. Man darf solche Bücher, welche anscheinend ganz objectiv gehalten sind,
nicht außer Acht lassen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/131>, abgerufen am 22.07.2024.