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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Faust, durch die Entfaltung dieser Stimmungen soviel reizende und anlockende
Perspektiven eröffnete, daß man steh gern den kühnsten Ahnungen hingab und
in dieser Fabel das höhere Gesetz des Lebens versinnlicht meinte, so lag das
eben darin, daß Goethe über seiner Zeit stand, und daß, was für ihn un¬
mittelbare individuelle Stimmung war, den übrigen Menschen als ein pro¬
phetisches Wort gelten konnte. Als er sich später, durch diesen Ruhm ver¬
führt, im zweiten Theil des Faust wirklich auf das Unternehmen einließ, ein
symbolisches GesaMmtbild des'Menschenlebens zu entwerfen, da ist ihm be¬
gegnet, was jedem Dichter begegnen wird, der sich über seine Kräfte hinaus
erkühnt: das Unternehmen ist ilpn mißlungen. Wenn Goethe in dem ersten
Theile seines Faust die verschiedenarngsten Scenen in scheinbarer Willkür durch¬
einanderwirst, Reflexionen eines geiht- und gefühlvollen Gelehrten, Bilder aus
dem Volksleben, Herenscenen und dergleichen, und doch bei der innern Har¬
monie seines Geistes in diese bunte Bilderreihe eine gleichmäßige Stimmung
5" bringen versteht, so gibt das andern Dichtern noch nicht das Recht, das
Gleiche zu versuchen; denn wie Goethe sagt, eines schickt sich nicht für alle.
An neuerer Zeit haben namentlich die Engländer versucht, in Goethes Fuß-
iapfen zu treten, Shelley, Bailey, Browning u. s. w., und vielleicht hat
grade dies Beispiel auf Herrn Jordan eingewirkt. Aber trotz aller schönen
Einzelheiten machen diese Werke doch immer den Eindruck eines verfehlten
Unternehmens.

Noch weniger als auf den Faust kann.sich der neuere Dichter, der die
Götterwelt darzustellen unternimmt, auf Dante oder Milton berufen. Die
Werke dieser Dichter werden einen ewigen Platz in der Geschichte der Mensch-
h°it behaupten und sich im gewissen Sinn neben dem Homer, den Mahabharata
Und die Edda stellen können; denn sie waren, wenn auch in einer gebildetem
geschrieben, ebenso wie jene Werke Krystallisationen des schöpferischen
^ligiö'sen Genius, und diesen kann sich der Dichter nicht willkürlich geben, er
'Miß vorhanden sein. Dante und Milton glaubten wirklich an das, was sie
Grieben, und wurden in diesem Glauben nicht im geringsten durch den
instant irregemacht, daß sie es im einzelnen ausdichteten, sowenig dieser
instant den 5>oiner und die nordischen Neligionsdichter geirrt hatte. Darum
geschah ^ haß ihre Dichtungen die concretesten, lebensvollsten Gestalten zeigten,
^'lebe die Poesie überhaupt zeigen kann, denn sie nahmen den Stoff ans der
^Ncreten und lebendigen Tradition, und die Glut ihrer religiösen Ueberzeugung
diesem Stoff die angemessene Form. In unsrem Zeitalter dagegen herrscht
der Religion nicht der organisch schaffende, sondern der kritische Geist, und
"Ach diejenigen, welche die Unzulänglichkeit der absoluten Kritik begreifen, be¬
werkstelligen diesen Uebergang ans dem Zweifel zum Glauben durch das Medium
^ Kritik und Reflerion Dieser Proceß kann nur subjectiv dargestellt werden,


ni*

Faust, durch die Entfaltung dieser Stimmungen soviel reizende und anlockende
Perspektiven eröffnete, daß man steh gern den kühnsten Ahnungen hingab und
in dieser Fabel das höhere Gesetz des Lebens versinnlicht meinte, so lag das
eben darin, daß Goethe über seiner Zeit stand, und daß, was für ihn un¬
mittelbare individuelle Stimmung war, den übrigen Menschen als ein pro¬
phetisches Wort gelten konnte. Als er sich später, durch diesen Ruhm ver¬
führt, im zweiten Theil des Faust wirklich auf das Unternehmen einließ, ein
symbolisches GesaMmtbild des'Menschenlebens zu entwerfen, da ist ihm be¬
gegnet, was jedem Dichter begegnen wird, der sich über seine Kräfte hinaus
erkühnt: das Unternehmen ist ilpn mißlungen. Wenn Goethe in dem ersten
Theile seines Faust die verschiedenarngsten Scenen in scheinbarer Willkür durch¬
einanderwirst, Reflexionen eines geiht- und gefühlvollen Gelehrten, Bilder aus
dem Volksleben, Herenscenen und dergleichen, und doch bei der innern Har¬
monie seines Geistes in diese bunte Bilderreihe eine gleichmäßige Stimmung
5" bringen versteht, so gibt das andern Dichtern noch nicht das Recht, das
Gleiche zu versuchen; denn wie Goethe sagt, eines schickt sich nicht für alle.
An neuerer Zeit haben namentlich die Engländer versucht, in Goethes Fuß-
iapfen zu treten, Shelley, Bailey, Browning u. s. w., und vielleicht hat
grade dies Beispiel auf Herrn Jordan eingewirkt. Aber trotz aller schönen
Einzelheiten machen diese Werke doch immer den Eindruck eines verfehlten
Unternehmens.

Noch weniger als auf den Faust kann.sich der neuere Dichter, der die
Götterwelt darzustellen unternimmt, auf Dante oder Milton berufen. Die
Werke dieser Dichter werden einen ewigen Platz in der Geschichte der Mensch-
h°it behaupten und sich im gewissen Sinn neben dem Homer, den Mahabharata
Und die Edda stellen können; denn sie waren, wenn auch in einer gebildetem
geschrieben, ebenso wie jene Werke Krystallisationen des schöpferischen
^ligiö'sen Genius, und diesen kann sich der Dichter nicht willkürlich geben, er
'Miß vorhanden sein. Dante und Milton glaubten wirklich an das, was sie
Grieben, und wurden in diesem Glauben nicht im geringsten durch den
instant irregemacht, daß sie es im einzelnen ausdichteten, sowenig dieser
instant den 5>oiner und die nordischen Neligionsdichter geirrt hatte. Darum
geschah ^ haß ihre Dichtungen die concretesten, lebensvollsten Gestalten zeigten,
^'lebe die Poesie überhaupt zeigen kann, denn sie nahmen den Stoff ans der
^Ncreten und lebendigen Tradition, und die Glut ihrer religiösen Ueberzeugung
diesem Stoff die angemessene Form. In unsrem Zeitalter dagegen herrscht
der Religion nicht der organisch schaffende, sondern der kritische Geist, und
"Ach diejenigen, welche die Unzulänglichkeit der absoluten Kritik begreifen, be¬
werkstelligen diesen Uebergang ans dem Zweifel zum Glauben durch das Medium
^ Kritik und Reflerion Dieser Proceß kann nur subjectiv dargestellt werden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/411>, abgerufen am 27.07.2024.