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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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liger Ausbruch (16. April 1773), als er in Kestners Brief einen stillen Vorwurfzu
erkennen glaubt. "O Kestner, wann habe ich Euch Lotten mißgegönnt im mensch¬
lichen Sinne! Denn um sie Euch nicht zumißgönnen im heiligen Sinne, müßte
ich ein Engel sein ohne Lunge und Leber. Doch muß ich Euch ein Geheimniß
entdecken: wie ich mich an Lotten attachirte, und das war ich, wie Ihr wißt,
von Herzen, redete Born mit mir davon, wie man spricht; ""wenn ich Kestner
wäre, mir gefiels nicht. Worauf kann das hinausgehen? Du spannst sie ihm
wol gar ab?"" und dergleichen. Da sagte ich ihm mit diesen Worten in seiner
Stube, es war des Morgens: ""Ich bin nun der Narre, das Mädchen für
etwas Besonderes zu halten; betrügt sie mich und wäre so wie ordinär, und
hätte den Kestner zum Fond ihrer Handlung, um desto sicherer mit ihren Reizen
zu wuchern, der erste Augenblick, der mir das entdeckte, der erste, der sie mir
näher brächte, wäre der letzte unsrer Bekanntschaft,"" und das betheuerte ich
und schwur, und unter uns ohne Prahlerei. Ich verstehe mich einigermaßen
auf die Mädchen, und Ihr wißt, wie ich geblieben bin und bleibe für sie und
alles, was sie gesehen, angerührt und wo sie gewesen ist, bis an der Welt
Ende." --

Nun kommt die Zeit, wo er am Werther arbeitet. Inzwischen erfahren
wir noch die näheren Umstände über das herrliche Gedicht: "der Wanderer."
"Er ist in meinem Garten an einem der besten Tage gemacht; Lotten ganz im
Herzen und in einer ruhigen Gemüthlichkeit, all Eure künftige Glückseligkeit vor
meiner Seele. Du wirst, wenn Du es recht anstehst, mehr Individualität in
dem Dinge finden, als es scheinen sollte. Du wirst unter der Allegorie Lotten
und mich und was ich so hunderttausendmal bei ihr gefühlt, erkennen, aber
verraths keinem Menschen. Darob solls Euch aber heilig sein, und ich hab
Euch auch immer bei mir, wenn ich etwas schreibe. Jetzt arbeite ich einen
Roman, es geht aber langsam......Noch ein Wort im Vertrauen als
Schriftsteller. Meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Größe/
und wenn mich meine Lebhaftigkeit nicht verläßt und meine Liebe, so solls noch
viel geben für meine Lieben, und das Publicum nimmt auch seinen Theil."
(1ö. September 1773.)

Von da an bereitet er sie von Zeit zu Zeit durch versteckte Winke vor.
So im Mai 177i: "Ich sehe sie immer noch, wie ich sie verlassen habe, daher
ich auch weder Dich als Ehemann kenne, noch irgendein anderes Verhältniß
als das alte, und sodann bei einer gewissen Gelegenheit fremde Leidenschaften
ausgeflickt und ausgeführt habe, daran ich Euch warne, Euch nicht zu stoßen."
Ferner am 11. Mai: "Adieu, ihr Menschen, die ich so liebe, daß ich auch der
träumenden Darstellung des Unglücks unsres Freundes die Fülle meiner Liebe
borgen und anpassen mußte." -- Diese dunklen Stellen werden erklärt, als
Goethe am 23. September 177i- noch vor der Ausgabe des Romans seinen


liger Ausbruch (16. April 1773), als er in Kestners Brief einen stillen Vorwurfzu
erkennen glaubt. „O Kestner, wann habe ich Euch Lotten mißgegönnt im mensch¬
lichen Sinne! Denn um sie Euch nicht zumißgönnen im heiligen Sinne, müßte
ich ein Engel sein ohne Lunge und Leber. Doch muß ich Euch ein Geheimniß
entdecken: wie ich mich an Lotten attachirte, und das war ich, wie Ihr wißt,
von Herzen, redete Born mit mir davon, wie man spricht; „„wenn ich Kestner
wäre, mir gefiels nicht. Worauf kann das hinausgehen? Du spannst sie ihm
wol gar ab?"" und dergleichen. Da sagte ich ihm mit diesen Worten in seiner
Stube, es war des Morgens: „„Ich bin nun der Narre, das Mädchen für
etwas Besonderes zu halten; betrügt sie mich und wäre so wie ordinär, und
hätte den Kestner zum Fond ihrer Handlung, um desto sicherer mit ihren Reizen
zu wuchern, der erste Augenblick, der mir das entdeckte, der erste, der sie mir
näher brächte, wäre der letzte unsrer Bekanntschaft,"" und das betheuerte ich
und schwur, und unter uns ohne Prahlerei. Ich verstehe mich einigermaßen
auf die Mädchen, und Ihr wißt, wie ich geblieben bin und bleibe für sie und
alles, was sie gesehen, angerührt und wo sie gewesen ist, bis an der Welt
Ende." —

Nun kommt die Zeit, wo er am Werther arbeitet. Inzwischen erfahren
wir noch die näheren Umstände über das herrliche Gedicht: „der Wanderer."
„Er ist in meinem Garten an einem der besten Tage gemacht; Lotten ganz im
Herzen und in einer ruhigen Gemüthlichkeit, all Eure künftige Glückseligkeit vor
meiner Seele. Du wirst, wenn Du es recht anstehst, mehr Individualität in
dem Dinge finden, als es scheinen sollte. Du wirst unter der Allegorie Lotten
und mich und was ich so hunderttausendmal bei ihr gefühlt, erkennen, aber
verraths keinem Menschen. Darob solls Euch aber heilig sein, und ich hab
Euch auch immer bei mir, wenn ich etwas schreibe. Jetzt arbeite ich einen
Roman, es geht aber langsam......Noch ein Wort im Vertrauen als
Schriftsteller. Meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Größe/
und wenn mich meine Lebhaftigkeit nicht verläßt und meine Liebe, so solls noch
viel geben für meine Lieben, und das Publicum nimmt auch seinen Theil."
(1ö. September 1773.)

Von da an bereitet er sie von Zeit zu Zeit durch versteckte Winke vor.
So im Mai 177i: „Ich sehe sie immer noch, wie ich sie verlassen habe, daher
ich auch weder Dich als Ehemann kenne, noch irgendein anderes Verhältniß
als das alte, und sodann bei einer gewissen Gelegenheit fremde Leidenschaften
ausgeflickt und ausgeführt habe, daran ich Euch warne, Euch nicht zu stoßen."
Ferner am 11. Mai: „Adieu, ihr Menschen, die ich so liebe, daß ich auch der
träumenden Darstellung des Unglücks unsres Freundes die Fülle meiner Liebe
borgen und anpassen mußte." — Diese dunklen Stellen werden erklärt, als
Goethe am 23. September 177i- noch vor der Ausgabe des Romans seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/374>, abgerufen am 01.09.2024.