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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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teres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal eine
Ahndung von dergleichen Betrachtung bemerken können. Kurz, er fing nach
einigen Monaten an einzusehen, daß er zu seiner Ruhe Gewalt gebrauchen
mußte. In einem Augenblicke, da er sich darüber völlig determinirt hatte,
reisete er ohne Abschied davon, nachdem er schon öfters vergebliche Versuche
zur Flucht gemacht hatte. Er ist zu Frankfurt und wir reden fleißig durch
Briefe miteinander. Bald schrieb er, nunmehr seiner wieder mächtig zu sein;
gleich darauf fand ich wieder Veränderungen bei ihm. Kürzlich konnte er es
doch nicht lassen, mit einem Freunde, der hier Geschäfte hatte, herüberzu¬
kommen; er würde vielleicht noch hier sein, wenn seines Begleiters Geschäfte
nicht in einigen Tagen beendigt gewesen wären, und dieser gleiche Bewegungs¬
gründe gehabt hätte, zurückzueilen: denn er folgt seiner nächsten Idee, und be¬
kümmert sich nicht um die Folgen, und dieses fließt aus seinem Charakter, der
ganz Original ist." --

Wer erinnert sich nicht aus dem Werther der herrlichen Scene, in welcher
der junge Mann mit Verzweiflung im Herzen von seiner Geliebten scheidet.
Sie ist ganz der Wirklichkeit nachgebildet, aber wir müssen offen gestehen, daß
die Wirklichkeit, wie sie uns hier in diesen Briefen vorliegt, noch viel reiner,
lchöirer und poetischer erscheint als die Dichtung. Sogar der kleine humoristische
Beischmack dieser Erzählung hat etwas Liebenswürdiges. Als die Familie das
Billet erhalten hat, worin Goethe seine bereits geschehene Abreise anzeigt, und
die Familie in dem höchsten Schreck und Kummer ist, heißt es weiter: "Die
Geheimräthin Lange hatte bei Gelegenheit durch seine Magd sagen lassen, es
wäre doch sehr ungezogen, daß l)r. Goethe so ohne Abschied zu nehmen ab¬
gereist sei. Lottchen ließ wieder sagen, warum sie ihren Neveu nicht besser er¬
zogen hätte?......Nachmittags brachte ich die Billets von Goethe an
Lottchen, Sie war betrübt über seine Abreise, es kamen ihr die Thränen beim
Lesen in die Augen; doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das
uicht geben konnte, waS er wünschte. Wir sprachen nur von ihm. Ich konnte
"Ach nichts Anderes , als an ihn denken, vertheidigte die Art seiner Abreise,
welche von einem Unverständigen getadelt wurde. Ich that es mit vieler
Heftigkeit." --

Der Briefwechsel geht durch das Jahr 1772 -- 73 und 74 ununterbrochen
fort. Goethe entwickelt die größte Wärme und Innigkeit; seine Theilnahme
"ehe soweit, daß er sich mit dem jungen Bruder Lottchens in eine Correspvn-
b°nz einläßt, um regelmäßige Nachrichten von ihr zu erhalten. Aber wenn hin
und wieder auch ein lebhafterer Ausdruck der Empfindung erfolgt, so machen
d'ehe Briefe doch nicht den Eindruck der Wertherleidenschaft. Der Umstand,
^ß ihm Kestner und Lotte aus Zartgefühl den Tag ihrer Hochzeit verschwiegen,
kommt bereits im Roman vor. Nur einmal nach der Hochzeit findet sich ein unwil-


teres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal eine
Ahndung von dergleichen Betrachtung bemerken können. Kurz, er fing nach
einigen Monaten an einzusehen, daß er zu seiner Ruhe Gewalt gebrauchen
mußte. In einem Augenblicke, da er sich darüber völlig determinirt hatte,
reisete er ohne Abschied davon, nachdem er schon öfters vergebliche Versuche
zur Flucht gemacht hatte. Er ist zu Frankfurt und wir reden fleißig durch
Briefe miteinander. Bald schrieb er, nunmehr seiner wieder mächtig zu sein;
gleich darauf fand ich wieder Veränderungen bei ihm. Kürzlich konnte er es
doch nicht lassen, mit einem Freunde, der hier Geschäfte hatte, herüberzu¬
kommen; er würde vielleicht noch hier sein, wenn seines Begleiters Geschäfte
nicht in einigen Tagen beendigt gewesen wären, und dieser gleiche Bewegungs¬
gründe gehabt hätte, zurückzueilen: denn er folgt seiner nächsten Idee, und be¬
kümmert sich nicht um die Folgen, und dieses fließt aus seinem Charakter, der
ganz Original ist." —

Wer erinnert sich nicht aus dem Werther der herrlichen Scene, in welcher
der junge Mann mit Verzweiflung im Herzen von seiner Geliebten scheidet.
Sie ist ganz der Wirklichkeit nachgebildet, aber wir müssen offen gestehen, daß
die Wirklichkeit, wie sie uns hier in diesen Briefen vorliegt, noch viel reiner,
lchöirer und poetischer erscheint als die Dichtung. Sogar der kleine humoristische
Beischmack dieser Erzählung hat etwas Liebenswürdiges. Als die Familie das
Billet erhalten hat, worin Goethe seine bereits geschehene Abreise anzeigt, und
die Familie in dem höchsten Schreck und Kummer ist, heißt es weiter: „Die
Geheimräthin Lange hatte bei Gelegenheit durch seine Magd sagen lassen, es
wäre doch sehr ungezogen, daß l)r. Goethe so ohne Abschied zu nehmen ab¬
gereist sei. Lottchen ließ wieder sagen, warum sie ihren Neveu nicht besser er¬
zogen hätte?......Nachmittags brachte ich die Billets von Goethe an
Lottchen, Sie war betrübt über seine Abreise, es kamen ihr die Thränen beim
Lesen in die Augen; doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das
uicht geben konnte, waS er wünschte. Wir sprachen nur von ihm. Ich konnte
"Ach nichts Anderes , als an ihn denken, vertheidigte die Art seiner Abreise,
welche von einem Unverständigen getadelt wurde. Ich that es mit vieler
Heftigkeit." —

Der Briefwechsel geht durch das Jahr 1772 — 73 und 74 ununterbrochen
fort. Goethe entwickelt die größte Wärme und Innigkeit; seine Theilnahme
»ehe soweit, daß er sich mit dem jungen Bruder Lottchens in eine Correspvn-
b°nz einläßt, um regelmäßige Nachrichten von ihr zu erhalten. Aber wenn hin
und wieder auch ein lebhafterer Ausdruck der Empfindung erfolgt, so machen
d'ehe Briefe doch nicht den Eindruck der Wertherleidenschaft. Der Umstand,
^ß ihm Kestner und Lotte aus Zartgefühl den Tag ihrer Hochzeit verschwiegen,
kommt bereits im Roman vor. Nur einmal nach der Hochzeit findet sich ein unwil-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/373>, abgerufen am 01.09.2024.