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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen anderen ist
er doch wohl angeschrieben. Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele
Hochachtung. In prineiMs ist er noch nicht fest und strebt noch erst nach
einem gewissen System......Er ist nicht, was man orthodox nennt, jedoch
nicht aus Stolz oder Caprice, oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äußert
sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen wenige; stört andere nicht gern in
ihren ruhigen Vorstellungen. Er haßt zwar den Skepticismus, strebt nach
Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch
schon über die wichtigsten determinirt zu sein, soviel ich aber gemerkt, ist er es
noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl; betet auch
selten; denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner......Er strebt nach
Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demon¬
stration." --

Wir fügen den Bericht hinzu, den Kestner am 18. November 1772, zwei
Monate, nachdem sich Goethe entfernt hatte, über das Verhältniß desselben zu
Lotten an den schon genannten Freund abstattete. "Ein junger Mensch an
Jahren, aber an Kenntnissen und Entwicklung seiner Seelenkräfte und seines
Charakters schon ein Mann; ein außerordentliches Genie und ein Mensch von
Charakter war hier, wie seine Familie glaubte, der Neichspraris wegen, in der
That aber um der Natur und der Wahrheit nachzuschleichen und den Homer
und Pindar zu studiren. Ganz von ungefähr lernte er Lottchen kennen, und
in ihr sein Ideal von einem vortrefflichen Mädchen. Er sah sie in ihrer fröh¬
lichen Gestalt, ward aber bald gewahr, daß dieses nicht ihre vorzüglichste Seite
war. Er lernte sie auch in ihrer häuslichen Situation kennen, und ward mit
einem Wort ihr Verehrer. Es konnte ihm nicht lange unbekannt bleiben, daß
sie ihm nichts als Freundschaft geben konnte......Indessen ob er gleich alle
Hoffnung aufgeben mußte, und auch aufgab, so konnte er mit aller seiner
Philosophie und seinem natürlichen Stolze soviel nicht über sich erhalten, daß
er seine Neigung ganz bezwungen hätte, und er hat solche Eigenschaften, die
ihn einem Frauenzimmer, zumal einem empfindenden und das von Geschmack
ist, gefährlich machen können: allein Lottchen wußte ihn so zu behandeln, daß
keine Hoffnung bei ihm aufkeimen konnte, und er sie in ihrer Art zu verfahren
noch selbst bewundern mußte. Seine Ruhe litt sehr dabei; es gab mancherlei
merkwürdige Scenen, wobei Lottchen bei mir gewann,, und er mir als Freund
auch werther werden mußte, ich aber doch manchmal bei mir erstaunen mußte,
wie die Liebe so gar wunderliche Geschöpfe selbst aus den stärksten und sonst
für sich selbstständigen Menschen machen kann. Meistens dauerte er mich und
es entstanden in mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich
möchte nicht im Stande sein, Lottchen so glücklich zu machen, als er, auf der
andern Seite aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letz-


machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen anderen ist
er doch wohl angeschrieben. Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele
Hochachtung. In prineiMs ist er noch nicht fest und strebt noch erst nach
einem gewissen System......Er ist nicht, was man orthodox nennt, jedoch
nicht aus Stolz oder Caprice, oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äußert
sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen wenige; stört andere nicht gern in
ihren ruhigen Vorstellungen. Er haßt zwar den Skepticismus, strebt nach
Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch
schon über die wichtigsten determinirt zu sein, soviel ich aber gemerkt, ist er es
noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl; betet auch
selten; denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner......Er strebt nach
Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demon¬
stration." —

Wir fügen den Bericht hinzu, den Kestner am 18. November 1772, zwei
Monate, nachdem sich Goethe entfernt hatte, über das Verhältniß desselben zu
Lotten an den schon genannten Freund abstattete. „Ein junger Mensch an
Jahren, aber an Kenntnissen und Entwicklung seiner Seelenkräfte und seines
Charakters schon ein Mann; ein außerordentliches Genie und ein Mensch von
Charakter war hier, wie seine Familie glaubte, der Neichspraris wegen, in der
That aber um der Natur und der Wahrheit nachzuschleichen und den Homer
und Pindar zu studiren. Ganz von ungefähr lernte er Lottchen kennen, und
in ihr sein Ideal von einem vortrefflichen Mädchen. Er sah sie in ihrer fröh¬
lichen Gestalt, ward aber bald gewahr, daß dieses nicht ihre vorzüglichste Seite
war. Er lernte sie auch in ihrer häuslichen Situation kennen, und ward mit
einem Wort ihr Verehrer. Es konnte ihm nicht lange unbekannt bleiben, daß
sie ihm nichts als Freundschaft geben konnte......Indessen ob er gleich alle
Hoffnung aufgeben mußte, und auch aufgab, so konnte er mit aller seiner
Philosophie und seinem natürlichen Stolze soviel nicht über sich erhalten, daß
er seine Neigung ganz bezwungen hätte, und er hat solche Eigenschaften, die
ihn einem Frauenzimmer, zumal einem empfindenden und das von Geschmack
ist, gefährlich machen können: allein Lottchen wußte ihn so zu behandeln, daß
keine Hoffnung bei ihm aufkeimen konnte, und er sie in ihrer Art zu verfahren
noch selbst bewundern mußte. Seine Ruhe litt sehr dabei; es gab mancherlei
merkwürdige Scenen, wobei Lottchen bei mir gewann,, und er mir als Freund
auch werther werden mußte, ich aber doch manchmal bei mir erstaunen mußte,
wie die Liebe so gar wunderliche Geschöpfe selbst aus den stärksten und sonst
für sich selbstständigen Menschen machen kann. Meistens dauerte er mich und
es entstanden in mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich
möchte nicht im Stande sein, Lottchen so glücklich zu machen, als er, auf der
andern Seite aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letz-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/372>, abgerufen am 01.09.2024.