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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Pfälzische Legationssecrctär, und Lotte des letztern Frau......Von Jerusalem
wußte der Verfasser seine vorherige Geschichte vermuthlich nicht. Darum schickte
er sie im ersten Theile voraus und setzte verschiedenes hinzu, um den Erfolg
des zweiten Theiles wahrscheinlich zu machen und diesem mehren Anlaß zu
geben......Auch diese Frau war zu der kleinen Untreue nicht einmal fähig,
und auch sie betrug sich viel eingezogener gegen Jerusalem, der sie freilich sehr
liebte, aber doch im beleidigten Ehrgeiz mehr als in der unglücklichen Liebe
den Grund zu seinem letzten Entschlüsse fand. Er beredete sich aber vielleicht
selbst, daß das letzte die Hauptursache sei, und die letzte Veranlassung ist die
Liebe gewiß gewesen.*) Es ist wieder wahr, daß ich ihm die Pistolen dazu
hergeliehen, aber daß er sie dazu mißbrauchen würde, ließ ich mir nicht einmal
träumen......Er war nur zweimal bei mir gewesen und bei dieser Ge¬
legenheit hatte er vielleicht die Pistolen bei meiner Kammerthür hängen
sehen......Diese Geschichte, die ich möglichst genau erforschte, weil sie merk¬
würdig war, schrieb ich mit allen Umständen aus und schickte sie Goethe nach
Frankfurt. Der hat im zweiten Theil seines Werther Gebrauch davon gemacht
und nach Gefallen etwas hinzugethan." --

Dies ist die vollständige speeiss tacet über das Verhältniß der Wirklich¬
keit zum Roman.

Bei seiner ersten Bekanntschaft mit Goethe schrieb Kestner über ihn einen
Brief, unter anderem in folgenden Notizen: "Im Frühjahr -I77Ä kam hier ein
gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Handthierung nach l>r. .juris, 23 Jahr
"le, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier -- dies war seines
Vaters Absicht -- in praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer,
P'utar :c. :c. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein
Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden......Er besitzt eine
außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern
und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer
uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne, wenn er aber älter
werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.
ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel'Gewalt über sich.
Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen soviel frei, handelt er, wie es
'hin einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt, ob es Mode
'se, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt. Er liebt die
Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarr und hat in
seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm



w > Bekanntlich war diese Vermischung zweier Motive im Werther dasjenige Moment,
Napoleon in seiner Unterredung mit Goethe als einen Fehler bezeichnete. Der Dichter
fertigte sich damals durch ästhetische Gründe, wir sehen aber hier, daß der gegebene Stoff"N> dazu bestimmte.
ik

Pfälzische Legationssecrctär, und Lotte des letztern Frau......Von Jerusalem
wußte der Verfasser seine vorherige Geschichte vermuthlich nicht. Darum schickte
er sie im ersten Theile voraus und setzte verschiedenes hinzu, um den Erfolg
des zweiten Theiles wahrscheinlich zu machen und diesem mehren Anlaß zu
geben......Auch diese Frau war zu der kleinen Untreue nicht einmal fähig,
und auch sie betrug sich viel eingezogener gegen Jerusalem, der sie freilich sehr
liebte, aber doch im beleidigten Ehrgeiz mehr als in der unglücklichen Liebe
den Grund zu seinem letzten Entschlüsse fand. Er beredete sich aber vielleicht
selbst, daß das letzte die Hauptursache sei, und die letzte Veranlassung ist die
Liebe gewiß gewesen.*) Es ist wieder wahr, daß ich ihm die Pistolen dazu
hergeliehen, aber daß er sie dazu mißbrauchen würde, ließ ich mir nicht einmal
träumen......Er war nur zweimal bei mir gewesen und bei dieser Ge¬
legenheit hatte er vielleicht die Pistolen bei meiner Kammerthür hängen
sehen......Diese Geschichte, die ich möglichst genau erforschte, weil sie merk¬
würdig war, schrieb ich mit allen Umständen aus und schickte sie Goethe nach
Frankfurt. Der hat im zweiten Theil seines Werther Gebrauch davon gemacht
und nach Gefallen etwas hinzugethan." —

Dies ist die vollständige speeiss tacet über das Verhältniß der Wirklich¬
keit zum Roman.

Bei seiner ersten Bekanntschaft mit Goethe schrieb Kestner über ihn einen
Brief, unter anderem in folgenden Notizen: „Im Frühjahr -I77Ä kam hier ein
gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Handthierung nach l>r. .juris, 23 Jahr
"le, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier — dies war seines
Vaters Absicht — in praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer,
P'utar :c. :c. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein
Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden......Er besitzt eine
außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern
und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer
uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne, wenn er aber älter
werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.
ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel'Gewalt über sich.
Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen soviel frei, handelt er, wie es
'hin einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt, ob es Mode
'se, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt. Er liebt die
Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarr und hat in
seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm



w > Bekanntlich war diese Vermischung zweier Motive im Werther dasjenige Moment,
Napoleon in seiner Unterredung mit Goethe als einen Fehler bezeichnete. Der Dichter
fertigte sich damals durch ästhetische Gründe, wir sehen aber hier, daß der gegebene Stoff"N> dazu bestimmte.
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[0371] Pfälzische Legationssecrctär, und Lotte des letztern Frau......Von Jerusalem wußte der Verfasser seine vorherige Geschichte vermuthlich nicht. Darum schickte er sie im ersten Theile voraus und setzte verschiedenes hinzu, um den Erfolg des zweiten Theiles wahrscheinlich zu machen und diesem mehren Anlaß zu geben......Auch diese Frau war zu der kleinen Untreue nicht einmal fähig, und auch sie betrug sich viel eingezogener gegen Jerusalem, der sie freilich sehr liebte, aber doch im beleidigten Ehrgeiz mehr als in der unglücklichen Liebe den Grund zu seinem letzten Entschlüsse fand. Er beredete sich aber vielleicht selbst, daß das letzte die Hauptursache sei, und die letzte Veranlassung ist die Liebe gewiß gewesen.*) Es ist wieder wahr, daß ich ihm die Pistolen dazu hergeliehen, aber daß er sie dazu mißbrauchen würde, ließ ich mir nicht einmal träumen......Er war nur zweimal bei mir gewesen und bei dieser Ge¬ legenheit hatte er vielleicht die Pistolen bei meiner Kammerthür hängen sehen......Diese Geschichte, die ich möglichst genau erforschte, weil sie merk¬ würdig war, schrieb ich mit allen Umständen aus und schickte sie Goethe nach Frankfurt. Der hat im zweiten Theil seines Werther Gebrauch davon gemacht und nach Gefallen etwas hinzugethan." — Dies ist die vollständige speeiss tacet über das Verhältniß der Wirklich¬ keit zum Roman. Bei seiner ersten Bekanntschaft mit Goethe schrieb Kestner über ihn einen Brief, unter anderem in folgenden Notizen: „Im Frühjahr -I77Ä kam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Handthierung nach l>r. .juris, 23 Jahr "le, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier — dies war seines Vaters Absicht — in praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, P'utar :c. :c. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden......Er besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne, wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen. ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel'Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen soviel frei, handelt er, wie es 'hin einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es andern gefällt, ob es Mode 'se, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt. Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarr und hat in seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm w > Bekanntlich war diese Vermischung zweier Motive im Werther dasjenige Moment, Napoleon in seiner Unterredung mit Goethe als einen Fehler bezeichnete. Der Dichter fertigte sich damals durch ästhetische Gründe, wir sehen aber hier, daß der gegebene Stoff"N> dazu bestimmte. ik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/371>, abgerufen am 01.09.2024.