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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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verhallten, die aber, in der späteren Zeit von Friedrich List wieder aufgenom¬
men, auf die positiven Verhältnisse angewendet und dadurch von praktischer
Bedeutung geworden sind. Es ist das entgegengesetzte Ertrem zu jener ab¬
soluten Freiheit des Individualismus, dem man in der Theorie allgemein hul¬
digte, und der bei der Reorganisation des preußischen Staates soweit in
Anwendung gebracht wurde, als bei einer Theorie überhaupt denkbar ist.

In der Construction der eigentlichen Staatsformen hat Fichte wenig ge¬
leistet. Wie er die Idee der Volkssouveränetät, die ihm doch aus der franzö¬
sischen Revolution immer vorschwebte, mit der Idee einer Zwangsanstalt in
Einklang bringen sollte: zur Lösung dieser Frage fehlte ihm der historische Blick.
Seine Idee eines Ephornts, d. h. einer Überwachung der Staatsgewalt durch
eine besonders dazu angestellte Volksbehörde, war umsoweniger zu billigen, da
bereits in der englischen Verfassung, soweit sie durch Montesquieu und andre
Schriftsteller der öffentlichen Meinung vermittelt war,'dieser Aufsichtsbehörde
eine viel lebensvollere und inhaltreichere Anschauung gegeben war. -- --

Die "Reden an die deutsche Nation" gaben Fichte in der öffentlichen Meinung
die Stellung, die er solange vergebens erstrebt hatte. Gleich darauf begann jene
große Zeit für den preußischen Staat, jene innere Reorganisation, deren Erfolge
zwar durch die spätere Rückwirkung häufig in Frage gestellt worden sind, die
aber doch schon damals nach der Ueberzeugung aller Gebildeten das Schicksal
Deutschlands an Preußen knüpften. An der Seite dieser Wiedergeburt, die
ihn persönlich anging, nahm Fichte großen Antheil. Zwar geriethen die Ideen
über das ins Große gebrachte allgemeine Erziehungssystem, die in der That
nicht sehr ausführbar waren, in Vergessenheit; allein die neu errichtete Uni¬
versität Berlin war doch das Marimum, das unter den gegenwärtigen Um¬
ständen erreicht werden konnte. Die ersten Kräfte der Nation wurden vereinigt,
und wäre diese Vereinigung noch zur Zeit der allgemeinen Productivität ein¬
getreten, so hätte dadurch der deutschen Literatur vielleicht eine neue Wendung
gegeben werden können. Bald nach der Auflösung der Universität Halle traten
die bedeutendsten Lehrer in Berlin auf. Wolf, Schleiermacher und Fichte begannen
ihre Vorlesungen schon vor der eigentlichen Errichtung der Universität. Sehr
schnell ergänzten sich die noch fehlenden Kräfte. Man nehme aus dem Jahre -1813
d"s Verzeichniß der Universitätslehrer, die sich zur gegenseitigen Unterstützung
der im Kriege Verwundeten und Verwaisten verpflichteten, so findet man außer
den Genannten in der Theologie Marheinecke, de Wette, Neander; in der Ph>-
lvlogie Böckh, Immanuel Becker, Buttmann, Ideler; in der Jurisprudenz Sa-
vigny, Eichhorn, Göschen; in der Philosophie Solger, und viele andere Namen
von gleicher Bedeutung: eine Concentration von Kräften, die in dieser Art,
denn sie waren noch alle im Aufsteigen begriffen, gewiß eine Seltenheit zu
nennen ist, wenn man noch Niebuhr, Humboldt u. a. hinzunimmt, die freilich


verhallten, die aber, in der späteren Zeit von Friedrich List wieder aufgenom¬
men, auf die positiven Verhältnisse angewendet und dadurch von praktischer
Bedeutung geworden sind. Es ist das entgegengesetzte Ertrem zu jener ab¬
soluten Freiheit des Individualismus, dem man in der Theorie allgemein hul¬
digte, und der bei der Reorganisation des preußischen Staates soweit in
Anwendung gebracht wurde, als bei einer Theorie überhaupt denkbar ist.

In der Construction der eigentlichen Staatsformen hat Fichte wenig ge¬
leistet. Wie er die Idee der Volkssouveränetät, die ihm doch aus der franzö¬
sischen Revolution immer vorschwebte, mit der Idee einer Zwangsanstalt in
Einklang bringen sollte: zur Lösung dieser Frage fehlte ihm der historische Blick.
Seine Idee eines Ephornts, d. h. einer Überwachung der Staatsgewalt durch
eine besonders dazu angestellte Volksbehörde, war umsoweniger zu billigen, da
bereits in der englischen Verfassung, soweit sie durch Montesquieu und andre
Schriftsteller der öffentlichen Meinung vermittelt war,'dieser Aufsichtsbehörde
eine viel lebensvollere und inhaltreichere Anschauung gegeben war. — —

Die „Reden an die deutsche Nation" gaben Fichte in der öffentlichen Meinung
die Stellung, die er solange vergebens erstrebt hatte. Gleich darauf begann jene
große Zeit für den preußischen Staat, jene innere Reorganisation, deren Erfolge
zwar durch die spätere Rückwirkung häufig in Frage gestellt worden sind, die
aber doch schon damals nach der Ueberzeugung aller Gebildeten das Schicksal
Deutschlands an Preußen knüpften. An der Seite dieser Wiedergeburt, die
ihn persönlich anging, nahm Fichte großen Antheil. Zwar geriethen die Ideen
über das ins Große gebrachte allgemeine Erziehungssystem, die in der That
nicht sehr ausführbar waren, in Vergessenheit; allein die neu errichtete Uni¬
versität Berlin war doch das Marimum, das unter den gegenwärtigen Um¬
ständen erreicht werden konnte. Die ersten Kräfte der Nation wurden vereinigt,
und wäre diese Vereinigung noch zur Zeit der allgemeinen Productivität ein¬
getreten, so hätte dadurch der deutschen Literatur vielleicht eine neue Wendung
gegeben werden können. Bald nach der Auflösung der Universität Halle traten
die bedeutendsten Lehrer in Berlin auf. Wolf, Schleiermacher und Fichte begannen
ihre Vorlesungen schon vor der eigentlichen Errichtung der Universität. Sehr
schnell ergänzten sich die noch fehlenden Kräfte. Man nehme aus dem Jahre -1813
d„s Verzeichniß der Universitätslehrer, die sich zur gegenseitigen Unterstützung
der im Kriege Verwundeten und Verwaisten verpflichteten, so findet man außer
den Genannten in der Theologie Marheinecke, de Wette, Neander; in der Ph>-
lvlogie Böckh, Immanuel Becker, Buttmann, Ideler; in der Jurisprudenz Sa-
vigny, Eichhorn, Göschen; in der Philosophie Solger, und viele andere Namen
von gleicher Bedeutung: eine Concentration von Kräften, die in dieser Art,
denn sie waren noch alle im Aufsteigen begriffen, gewiß eine Seltenheit zu
nennen ist, wenn man noch Niebuhr, Humboldt u. a. hinzunimmt, die freilich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/316>, abgerufen am 27.07.2024.