Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der öffentlichen Meinung vor, und wenn man ihm auch manches zur Berichti¬
gung der allerrohsten Grundbegriffe des Constitutionalismus verdankt, so waren
diese doch nicht eingreifend genug, um mit den gleichzeitigen Rechtsentwicklungen
der historischen Schule wetteifern zu können. Die Entwicklung unsrer politi¬
schen Begriffe geht theils von den Franzosen, theils von unsren Juristen und
Historikern aus.

Was Fichte für die Rechtsphilosophie gethan, ist in den beiden Schriften
"Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts-
lehre" (1796) und "der geschlossene Handels Staat" (-I8U0) niedergelegt.
In beiden ist die Tendenz der Kantischen fast gradezu entgengesetzt. Kant war
seiner ganzen Gesinnung nach ein strenger Lutheraner, dem die Rechtlichkeit des
Privatlebens über alles ging, und der den Staat als eine Form der Gesellschaft
tolerirte, die zwar nicht zu umgehen sei, die aber an sich selbst keinen Werth
habe. Er stand mit diesen Ansichten keineswegs allein: man vergleiche noch
heute die "Ideen über den Staat" von Wilhelm von Humboldt (-1792) und
man wird jene Auffassung des Liberalismus, daß der Staat nur dazu da sei,
um sich selbst überflüssig zu machen, und daß jeder Fortschritt der Cultur dem
abstracten Staat eine Function nach der andern entziehen müsse, fast ebenso
bestimmt und parador entwickelt finden, als bei Börne. In Deutschland hatte
man sich, theils durch die äußeren Umstände, theils auch durch die herrschende
Dichtkunst verführt, so in die schönen Formen des individuellen Lebens vertieft,
daß man den Staat nur als etwas Jenseitiges, draußen Stehendes, Gemachtes
ansehen konnte; sowie Goethe und Schiller das schöne Leben der Individuen
als das höchste Ziel der Menschheit aufstellten, so Kant das Rechtthun, ohne
alle weitere Beziehung auf das, was daraus hervorgehen könne. Aus diesem
Kreise des bloßen Gewissens riß Fichte die Philosophie; er zeigte, daß die Er¬
reichung bestimmter Zwecke von dem Rechtthun nicht getrennt werden könne,
und baß in diesem Sinne der Staat, als der Inbegriff des realen Lebens,
mit der Idee und dem Wesen deö Menschen unzertrennlich verbunden sei, daß
man sich also nicht etwa einen Urzustand und ein Reich der Zukunft zu denken
habe, in welchem der Staat noch nicht dagewesen sei, und eine spätere, ver¬
tragsmäßige, also künstliche Entstehung des Staats, sondern daß dieser Staat
überall vorhanden sei, wo es Menschen gäbe. Er ging sogar über das Ziel
hinaus, indem er dem Staate, als der Zwangsanstalt für den Fortschritt der
Gattung, alle Functionen beilegen wollte, die überhaupt daS Leben fördern; er
suchte die individuelle Freiheit auf jede Weise niederzudrücken. Nicht blos das
Recht, sondern auch die Erziehung, die Kunst und Wissenschaft, ferner die ma¬
teriellen Bestrebungen des Menschen sollten nach einer bestimmten, streng durch¬
geführten Methode vom Staate geregelt werden. So stellte er in dem "ge¬
schlossenen Handelsstaat" jene Principien auf, die damals ziemlich ungehört


39*

der öffentlichen Meinung vor, und wenn man ihm auch manches zur Berichti¬
gung der allerrohsten Grundbegriffe des Constitutionalismus verdankt, so waren
diese doch nicht eingreifend genug, um mit den gleichzeitigen Rechtsentwicklungen
der historischen Schule wetteifern zu können. Die Entwicklung unsrer politi¬
schen Begriffe geht theils von den Franzosen, theils von unsren Juristen und
Historikern aus.

Was Fichte für die Rechtsphilosophie gethan, ist in den beiden Schriften
„Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts-
lehre" (1796) und „der geschlossene Handels Staat" (-I8U0) niedergelegt.
In beiden ist die Tendenz der Kantischen fast gradezu entgengesetzt. Kant war
seiner ganzen Gesinnung nach ein strenger Lutheraner, dem die Rechtlichkeit des
Privatlebens über alles ging, und der den Staat als eine Form der Gesellschaft
tolerirte, die zwar nicht zu umgehen sei, die aber an sich selbst keinen Werth
habe. Er stand mit diesen Ansichten keineswegs allein: man vergleiche noch
heute die „Ideen über den Staat" von Wilhelm von Humboldt (-1792) und
man wird jene Auffassung des Liberalismus, daß der Staat nur dazu da sei,
um sich selbst überflüssig zu machen, und daß jeder Fortschritt der Cultur dem
abstracten Staat eine Function nach der andern entziehen müsse, fast ebenso
bestimmt und parador entwickelt finden, als bei Börne. In Deutschland hatte
man sich, theils durch die äußeren Umstände, theils auch durch die herrschende
Dichtkunst verführt, so in die schönen Formen des individuellen Lebens vertieft,
daß man den Staat nur als etwas Jenseitiges, draußen Stehendes, Gemachtes
ansehen konnte; sowie Goethe und Schiller das schöne Leben der Individuen
als das höchste Ziel der Menschheit aufstellten, so Kant das Rechtthun, ohne
alle weitere Beziehung auf das, was daraus hervorgehen könne. Aus diesem
Kreise des bloßen Gewissens riß Fichte die Philosophie; er zeigte, daß die Er¬
reichung bestimmter Zwecke von dem Rechtthun nicht getrennt werden könne,
und baß in diesem Sinne der Staat, als der Inbegriff des realen Lebens,
mit der Idee und dem Wesen deö Menschen unzertrennlich verbunden sei, daß
man sich also nicht etwa einen Urzustand und ein Reich der Zukunft zu denken
habe, in welchem der Staat noch nicht dagewesen sei, und eine spätere, ver¬
tragsmäßige, also künstliche Entstehung des Staats, sondern daß dieser Staat
überall vorhanden sei, wo es Menschen gäbe. Er ging sogar über das Ziel
hinaus, indem er dem Staate, als der Zwangsanstalt für den Fortschritt der
Gattung, alle Functionen beilegen wollte, die überhaupt daS Leben fördern; er
suchte die individuelle Freiheit auf jede Weise niederzudrücken. Nicht blos das
Recht, sondern auch die Erziehung, die Kunst und Wissenschaft, ferner die ma¬
teriellen Bestrebungen des Menschen sollten nach einer bestimmten, streng durch¬
geführten Methode vom Staate geregelt werden. So stellte er in dem „ge¬
schlossenen Handelsstaat" jene Principien auf, die damals ziemlich ungehört


39*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281466"/>
            <p xml:id="ID_945" prev="#ID_944"> der öffentlichen Meinung vor, und wenn man ihm auch manches zur Berichti¬<lb/>
gung der allerrohsten Grundbegriffe des Constitutionalismus verdankt, so waren<lb/>
diese doch nicht eingreifend genug, um mit den gleichzeitigen Rechtsentwicklungen<lb/>
der historischen Schule wetteifern zu können. Die Entwicklung unsrer politi¬<lb/>
schen Begriffe geht theils von den Franzosen, theils von unsren Juristen und<lb/>
Historikern aus.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_946" next="#ID_947"> Was Fichte für die Rechtsphilosophie gethan, ist in den beiden Schriften<lb/>
&#x201E;Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts-<lb/>
lehre" (1796) und &#x201E;der geschlossene Handels Staat" (-I8U0) niedergelegt.<lb/>
In beiden ist die Tendenz der Kantischen fast gradezu entgengesetzt. Kant war<lb/>
seiner ganzen Gesinnung nach ein strenger Lutheraner, dem die Rechtlichkeit des<lb/>
Privatlebens über alles ging, und der den Staat als eine Form der Gesellschaft<lb/>
tolerirte, die zwar nicht zu umgehen sei, die aber an sich selbst keinen Werth<lb/>
habe. Er stand mit diesen Ansichten keineswegs allein: man vergleiche noch<lb/>
heute die &#x201E;Ideen über den Staat" von Wilhelm von Humboldt (-1792) und<lb/>
man wird jene Auffassung des Liberalismus, daß der Staat nur dazu da sei,<lb/>
um sich selbst überflüssig zu machen, und daß jeder Fortschritt der Cultur dem<lb/>
abstracten Staat eine Function nach der andern entziehen müsse, fast ebenso<lb/>
bestimmt und parador entwickelt finden, als bei Börne. In Deutschland hatte<lb/>
man sich, theils durch die äußeren Umstände, theils auch durch die herrschende<lb/>
Dichtkunst verführt, so in die schönen Formen des individuellen Lebens vertieft,<lb/>
daß man den Staat nur als etwas Jenseitiges, draußen Stehendes, Gemachtes<lb/>
ansehen konnte; sowie Goethe und Schiller das schöne Leben der Individuen<lb/>
als das höchste Ziel der Menschheit aufstellten, so Kant das Rechtthun, ohne<lb/>
alle weitere Beziehung auf das, was daraus hervorgehen könne. Aus diesem<lb/>
Kreise des bloßen Gewissens riß Fichte die Philosophie; er zeigte, daß die Er¬<lb/>
reichung bestimmter Zwecke von dem Rechtthun nicht getrennt werden könne,<lb/>
und baß in diesem Sinne der Staat, als der Inbegriff des realen Lebens,<lb/>
mit der Idee und dem Wesen deö Menschen unzertrennlich verbunden sei, daß<lb/>
man sich also nicht etwa einen Urzustand und ein Reich der Zukunft zu denken<lb/>
habe, in welchem der Staat noch nicht dagewesen sei, und eine spätere, ver¬<lb/>
tragsmäßige, also künstliche Entstehung des Staats, sondern daß dieser Staat<lb/>
überall vorhanden sei, wo es Menschen gäbe. Er ging sogar über das Ziel<lb/>
hinaus, indem er dem Staate, als der Zwangsanstalt für den Fortschritt der<lb/>
Gattung, alle Functionen beilegen wollte, die überhaupt daS Leben fördern; er<lb/>
suchte die individuelle Freiheit auf jede Weise niederzudrücken. Nicht blos das<lb/>
Recht, sondern auch die Erziehung, die Kunst und Wissenschaft, ferner die ma¬<lb/>
teriellen Bestrebungen des Menschen sollten nach einer bestimmten, streng durch¬<lb/>
geführten Methode vom Staate geregelt werden. So stellte er in dem &#x201E;ge¬<lb/>
schlossenen Handelsstaat" jene Principien auf, die damals ziemlich ungehört</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 39*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0315] der öffentlichen Meinung vor, und wenn man ihm auch manches zur Berichti¬ gung der allerrohsten Grundbegriffe des Constitutionalismus verdankt, so waren diese doch nicht eingreifend genug, um mit den gleichzeitigen Rechtsentwicklungen der historischen Schule wetteifern zu können. Die Entwicklung unsrer politi¬ schen Begriffe geht theils von den Franzosen, theils von unsren Juristen und Historikern aus. Was Fichte für die Rechtsphilosophie gethan, ist in den beiden Schriften „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts- lehre" (1796) und „der geschlossene Handels Staat" (-I8U0) niedergelegt. In beiden ist die Tendenz der Kantischen fast gradezu entgengesetzt. Kant war seiner ganzen Gesinnung nach ein strenger Lutheraner, dem die Rechtlichkeit des Privatlebens über alles ging, und der den Staat als eine Form der Gesellschaft tolerirte, die zwar nicht zu umgehen sei, die aber an sich selbst keinen Werth habe. Er stand mit diesen Ansichten keineswegs allein: man vergleiche noch heute die „Ideen über den Staat" von Wilhelm von Humboldt (-1792) und man wird jene Auffassung des Liberalismus, daß der Staat nur dazu da sei, um sich selbst überflüssig zu machen, und daß jeder Fortschritt der Cultur dem abstracten Staat eine Function nach der andern entziehen müsse, fast ebenso bestimmt und parador entwickelt finden, als bei Börne. In Deutschland hatte man sich, theils durch die äußeren Umstände, theils auch durch die herrschende Dichtkunst verführt, so in die schönen Formen des individuellen Lebens vertieft, daß man den Staat nur als etwas Jenseitiges, draußen Stehendes, Gemachtes ansehen konnte; sowie Goethe und Schiller das schöne Leben der Individuen als das höchste Ziel der Menschheit aufstellten, so Kant das Rechtthun, ohne alle weitere Beziehung auf das, was daraus hervorgehen könne. Aus diesem Kreise des bloßen Gewissens riß Fichte die Philosophie; er zeigte, daß die Er¬ reichung bestimmter Zwecke von dem Rechtthun nicht getrennt werden könne, und baß in diesem Sinne der Staat, als der Inbegriff des realen Lebens, mit der Idee und dem Wesen deö Menschen unzertrennlich verbunden sei, daß man sich also nicht etwa einen Urzustand und ein Reich der Zukunft zu denken habe, in welchem der Staat noch nicht dagewesen sei, und eine spätere, ver¬ tragsmäßige, also künstliche Entstehung des Staats, sondern daß dieser Staat überall vorhanden sei, wo es Menschen gäbe. Er ging sogar über das Ziel hinaus, indem er dem Staate, als der Zwangsanstalt für den Fortschritt der Gattung, alle Functionen beilegen wollte, die überhaupt daS Leben fördern; er suchte die individuelle Freiheit auf jede Weise niederzudrücken. Nicht blos das Recht, sondern auch die Erziehung, die Kunst und Wissenschaft, ferner die ma¬ teriellen Bestrebungen des Menschen sollten nach einer bestimmten, streng durch¬ geführten Methode vom Staate geregelt werden. So stellte er in dem „ge¬ schlossenen Handelsstaat" jene Principien auf, die damals ziemlich ungehört 39*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/315
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/315>, abgerufen am 01.09.2024.