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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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der alten Volksgerichte zu Grunde, in vielen Gegenden ward aus dem Gerichts¬
dienst sogar ein Wochendienst, der als bloße Eigenthumsrente behandelt ward;
durch die Verwüstung der Markenwaldungcn verloren auch die Markensprachen
an Bedeutung, und, sagt Stüve, "nur in wenigen Gegenden behielt man noch
die Bauernsprache als Beweis in Besitzsachen oder wegen Wege-, Grenz- und
ähnlicher Streitigkeiten bei, oder verwies auch wol Sachen, in denen es auf
Landesgebrauch ankam, aus dem gelehrten Obergerichte ans Lcmdgöding." Es
war aber auch bei dem Systeme der Beschränkung der Rechtsfähigkeit, welches
der moderne Staat dem Individuum wie der Corporation, der Gemeinde auf¬
legte, die mittelalterliche Gemeindeselbstständigkeit nicht mehr zu erhalten; sie
mußte aus dem constitutionellen Staate wiedergeboren werden.

Das achtzehnte Jahrhundert war durchgängig von dem besten Geiste für
das Wohl der Menschheit beseelt, zählte eine Menge durch edlen Sinn und
Güte ausgezeichnete Fürsten und Minister, und wenn wir jetzt ihre Bemühun¬
gen für das Volkswohl als mit dem Selfgovernement streitend und auf falschen
volkswirtschaftlichen Principien beruhend verurtheilen, so sollten wir nie ver¬
gessen, daß dieselben bei der regicrungsbedürstigen, aller Selbstregierung durch
geistige Versumpfung und materielle Noth entwöhnten Bevölkerung des euro¬
päischen Kontinents eine nothwendige Vorschule für eine dereinstige Selbst¬
verwaltung waren und viele Samenkörner des politischen Lebens ausgestreut
haben, deren Früchte wir jetzt oft ernten, ohne den Säern gerecht zu werden.
In Norddeutschland aber drangen diese humanistischen Bemühungen des abso¬
luten Staates bei den Bauerugemeinden nirgend in Kopf und Herz der Be¬
völkerung; es waren eben Befehle, denen man gehorchte, weil man mußte,
aber sowenig als möglich. Es entstand in dieser Zeit die völlige sittliche und
ökonomische Lostrennung der Gemeinden und einzelnen Bauern von ihren Vor¬
gesetzten , welche statt der frühern in der Gemeinde oder doch in der Nähe
erblich angesessenen Grundherren jetzt aus buchgelehrten, besitz - und interesse¬
losen besoldeten Beamten bestanden, zu denen der Landmann kein Herz fassen
konnte, weil sie seine Verhältnisse gewöhnlich so wenig begriffen, daß man z. B.
selbst in Gesetzen aus einer Holzmark einen Holzmarkt, aus einer Bauer¬
einigung eine Baureinigung machte. Zwei Dinge griffen aber zu dieser Zeit
so stark in die innern Verhältnisse der Landgemeinden ein, daß sie eine wenn
auch gedrängte, so doch besondere Betrachtung verdienen. Es waren die
Eremtion und die Markentheilung, von denen die erste die Hauptursache der
verbitterten Stimmung des Bauern gegen den Adel ist, die zweite am zer-
störendsten in die mittelalterlichen socialen Zustände deS Gemeindewesens ein¬
gegriffen hat.

Die Eremtion lag in allen Zuständen des Mittelalters begründet, da
man bei der Beschaffung der gemeinschaftlichen Einrichtungen und Anstalten


Grenzboten. III. itiNi. 37

der alten Volksgerichte zu Grunde, in vielen Gegenden ward aus dem Gerichts¬
dienst sogar ein Wochendienst, der als bloße Eigenthumsrente behandelt ward;
durch die Verwüstung der Markenwaldungcn verloren auch die Markensprachen
an Bedeutung, und, sagt Stüve, „nur in wenigen Gegenden behielt man noch
die Bauernsprache als Beweis in Besitzsachen oder wegen Wege-, Grenz- und
ähnlicher Streitigkeiten bei, oder verwies auch wol Sachen, in denen es auf
Landesgebrauch ankam, aus dem gelehrten Obergerichte ans Lcmdgöding." Es
war aber auch bei dem Systeme der Beschränkung der Rechtsfähigkeit, welches
der moderne Staat dem Individuum wie der Corporation, der Gemeinde auf¬
legte, die mittelalterliche Gemeindeselbstständigkeit nicht mehr zu erhalten; sie
mußte aus dem constitutionellen Staate wiedergeboren werden.

Das achtzehnte Jahrhundert war durchgängig von dem besten Geiste für
das Wohl der Menschheit beseelt, zählte eine Menge durch edlen Sinn und
Güte ausgezeichnete Fürsten und Minister, und wenn wir jetzt ihre Bemühun¬
gen für das Volkswohl als mit dem Selfgovernement streitend und auf falschen
volkswirtschaftlichen Principien beruhend verurtheilen, so sollten wir nie ver¬
gessen, daß dieselben bei der regicrungsbedürstigen, aller Selbstregierung durch
geistige Versumpfung und materielle Noth entwöhnten Bevölkerung des euro¬
päischen Kontinents eine nothwendige Vorschule für eine dereinstige Selbst¬
verwaltung waren und viele Samenkörner des politischen Lebens ausgestreut
haben, deren Früchte wir jetzt oft ernten, ohne den Säern gerecht zu werden.
In Norddeutschland aber drangen diese humanistischen Bemühungen des abso¬
luten Staates bei den Bauerugemeinden nirgend in Kopf und Herz der Be¬
völkerung; es waren eben Befehle, denen man gehorchte, weil man mußte,
aber sowenig als möglich. Es entstand in dieser Zeit die völlige sittliche und
ökonomische Lostrennung der Gemeinden und einzelnen Bauern von ihren Vor¬
gesetzten , welche statt der frühern in der Gemeinde oder doch in der Nähe
erblich angesessenen Grundherren jetzt aus buchgelehrten, besitz - und interesse¬
losen besoldeten Beamten bestanden, zu denen der Landmann kein Herz fassen
konnte, weil sie seine Verhältnisse gewöhnlich so wenig begriffen, daß man z. B.
selbst in Gesetzen aus einer Holzmark einen Holzmarkt, aus einer Bauer¬
einigung eine Baureinigung machte. Zwei Dinge griffen aber zu dieser Zeit
so stark in die innern Verhältnisse der Landgemeinden ein, daß sie eine wenn
auch gedrängte, so doch besondere Betrachtung verdienen. Es waren die
Eremtion und die Markentheilung, von denen die erste die Hauptursache der
verbitterten Stimmung des Bauern gegen den Adel ist, die zweite am zer-
störendsten in die mittelalterlichen socialen Zustände deS Gemeindewesens ein¬
gegriffen hat.

Die Eremtion lag in allen Zuständen des Mittelalters begründet, da
man bei der Beschaffung der gemeinschaftlichen Einrichtungen und Anstalten


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[0297] der alten Volksgerichte zu Grunde, in vielen Gegenden ward aus dem Gerichts¬ dienst sogar ein Wochendienst, der als bloße Eigenthumsrente behandelt ward; durch die Verwüstung der Markenwaldungcn verloren auch die Markensprachen an Bedeutung, und, sagt Stüve, „nur in wenigen Gegenden behielt man noch die Bauernsprache als Beweis in Besitzsachen oder wegen Wege-, Grenz- und ähnlicher Streitigkeiten bei, oder verwies auch wol Sachen, in denen es auf Landesgebrauch ankam, aus dem gelehrten Obergerichte ans Lcmdgöding." Es war aber auch bei dem Systeme der Beschränkung der Rechtsfähigkeit, welches der moderne Staat dem Individuum wie der Corporation, der Gemeinde auf¬ legte, die mittelalterliche Gemeindeselbstständigkeit nicht mehr zu erhalten; sie mußte aus dem constitutionellen Staate wiedergeboren werden. Das achtzehnte Jahrhundert war durchgängig von dem besten Geiste für das Wohl der Menschheit beseelt, zählte eine Menge durch edlen Sinn und Güte ausgezeichnete Fürsten und Minister, und wenn wir jetzt ihre Bemühun¬ gen für das Volkswohl als mit dem Selfgovernement streitend und auf falschen volkswirtschaftlichen Principien beruhend verurtheilen, so sollten wir nie ver¬ gessen, daß dieselben bei der regicrungsbedürstigen, aller Selbstregierung durch geistige Versumpfung und materielle Noth entwöhnten Bevölkerung des euro¬ päischen Kontinents eine nothwendige Vorschule für eine dereinstige Selbst¬ verwaltung waren und viele Samenkörner des politischen Lebens ausgestreut haben, deren Früchte wir jetzt oft ernten, ohne den Säern gerecht zu werden. In Norddeutschland aber drangen diese humanistischen Bemühungen des abso¬ luten Staates bei den Bauerugemeinden nirgend in Kopf und Herz der Be¬ völkerung; es waren eben Befehle, denen man gehorchte, weil man mußte, aber sowenig als möglich. Es entstand in dieser Zeit die völlige sittliche und ökonomische Lostrennung der Gemeinden und einzelnen Bauern von ihren Vor¬ gesetzten , welche statt der frühern in der Gemeinde oder doch in der Nähe erblich angesessenen Grundherren jetzt aus buchgelehrten, besitz - und interesse¬ losen besoldeten Beamten bestanden, zu denen der Landmann kein Herz fassen konnte, weil sie seine Verhältnisse gewöhnlich so wenig begriffen, daß man z. B. selbst in Gesetzen aus einer Holzmark einen Holzmarkt, aus einer Bauer¬ einigung eine Baureinigung machte. Zwei Dinge griffen aber zu dieser Zeit so stark in die innern Verhältnisse der Landgemeinden ein, daß sie eine wenn auch gedrängte, so doch besondere Betrachtung verdienen. Es waren die Eremtion und die Markentheilung, von denen die erste die Hauptursache der verbitterten Stimmung des Bauern gegen den Adel ist, die zweite am zer- störendsten in die mittelalterlichen socialen Zustände deS Gemeindewesens ein¬ gegriffen hat. Die Eremtion lag in allen Zuständen des Mittelalters begründet, da man bei der Beschaffung der gemeinschaftlichen Einrichtungen und Anstalten Grenzboten. III. itiNi. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/297>, abgerufen am 27.07.2024.