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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Freuden fehlt, wird die Religion leicht seine geistige Hauptbeschäftigung werden,
und die Gefahr der religiösen Grübelei nahe sein. Beides ist oft bei dem säch¬
sischen Landmann der Fall, dessen Bibliothek gewöhnlich aus Bibel, Gesang-
und Gebetbuch, nebst Katechismus und Schulbüchern für die Kinder, und
einem einzigen weltlichen Buche, dem Kalender besteht, welchem letztern er ge¬
meinlich denselben abergläubischen Glauben schenkt, als in der Heidenzeit den
Wahrsagemitteln. Der sächsische Landmann ist bekanntlich in der großen
Mehrzahl protestantisch, und zwar eifrigst, so daß sein höchster Ausruf des un¬
willigen Aergers die Worte sind: "Dies ist ja zum Katholischwerden!" aber
er ist nicht zelotisch intolerant und noch weniger dem Pastor unbedingt ge¬
horsam, denn er ist in seiner Bibel wohlbewandert, und prüft an ihr die
Vorträge des Predigers, die ihm freilich selten orthodox genug sind und durch
eine tüchtige Dosis moralischer Kapuzinaden in Werth bei ihm steigen; aber
selbst in den katholischen' Gegenden ist an keine unbedingte Priesterherrschaft
zu denken, da der Landmann es sich auch hier nicht nehmen läßt, sein eignes
Urtheil über den Pastor und viele Religionspunkte zu haben, und bei vielen
besteht der katholische Eiser in nichts Anderem, als der Lust an der Vertheidi¬
gung ihrer Kirche als Partei und der norddeutschen Rechthaberei; grade in
den erzkatholischen Gegenden hört man gewöhnlich die freiesten Aeußerungen
über Pastor und Kirche, wie z. B. die Gebildeten wie Ungebildeten im
Münsterschen nur deshalb so eifrig im Katholicismus sind, weil die Preußen
Protestanten sind.

So sind auch die verschiedenen frommen Sektirer unter den Protestanten
es vielmehr aus Oppositionssucht, als aus einem religiösen Bedürfnisse.
Die Religion durchdringt eben nicht mehr das ganze Leben und die Denkweise
des gemeinen Mannes, wie eS in der Reformationszeit der Fall war, sondern
beschränkt sich größtentheils auf die Beherrschung eines abgesonderten Ge¬
dankenkreises, nämlich des religiös dogmatischen, des jenseitigen, sonntäglichen;
so weiß der sächsische Landmann, wenn er auch noch so orthodox ist, sehr wohl
sich ein rein weltliches Urtheil über seine materiellen und die allgemeinen po¬
litischen Angelegenheiten zu bewahren, wie z. B. die Landbewohner des
Fürstenthums Hildesheim trotz ihres eifrigen Katholicismus entschieden frei¬
sinnig sind. So wenig also der sächsische Landmann sich in seinen politischen
und weltlichen Ansichten durch die Religion regieren läßt, so sehr ist er da¬
gegen bereit, aus derselben die Beweise für seine politischen und socialen An¬
sichten zu entnehmen, und keine Taktik ist der sächsischen Landbevölkerung
geläufiger, als die religiös politische. Die Religion ist ihm, wenn auch un¬
bewußt, ebenso oft ein Nechtfcrtigungsmittel seiner weltlichen Vergehen, als
der ungläubigen Diplomatie.

Da eine solche Religiosität nicht im Stande ist, das weltliche Denken und


Freuden fehlt, wird die Religion leicht seine geistige Hauptbeschäftigung werden,
und die Gefahr der religiösen Grübelei nahe sein. Beides ist oft bei dem säch¬
sischen Landmann der Fall, dessen Bibliothek gewöhnlich aus Bibel, Gesang-
und Gebetbuch, nebst Katechismus und Schulbüchern für die Kinder, und
einem einzigen weltlichen Buche, dem Kalender besteht, welchem letztern er ge¬
meinlich denselben abergläubischen Glauben schenkt, als in der Heidenzeit den
Wahrsagemitteln. Der sächsische Landmann ist bekanntlich in der großen
Mehrzahl protestantisch, und zwar eifrigst, so daß sein höchster Ausruf des un¬
willigen Aergers die Worte sind: „Dies ist ja zum Katholischwerden!" aber
er ist nicht zelotisch intolerant und noch weniger dem Pastor unbedingt ge¬
horsam, denn er ist in seiner Bibel wohlbewandert, und prüft an ihr die
Vorträge des Predigers, die ihm freilich selten orthodox genug sind und durch
eine tüchtige Dosis moralischer Kapuzinaden in Werth bei ihm steigen; aber
selbst in den katholischen' Gegenden ist an keine unbedingte Priesterherrschaft
zu denken, da der Landmann es sich auch hier nicht nehmen läßt, sein eignes
Urtheil über den Pastor und viele Religionspunkte zu haben, und bei vielen
besteht der katholische Eiser in nichts Anderem, als der Lust an der Vertheidi¬
gung ihrer Kirche als Partei und der norddeutschen Rechthaberei; grade in
den erzkatholischen Gegenden hört man gewöhnlich die freiesten Aeußerungen
über Pastor und Kirche, wie z. B. die Gebildeten wie Ungebildeten im
Münsterschen nur deshalb so eifrig im Katholicismus sind, weil die Preußen
Protestanten sind.

So sind auch die verschiedenen frommen Sektirer unter den Protestanten
es vielmehr aus Oppositionssucht, als aus einem religiösen Bedürfnisse.
Die Religion durchdringt eben nicht mehr das ganze Leben und die Denkweise
des gemeinen Mannes, wie eS in der Reformationszeit der Fall war, sondern
beschränkt sich größtentheils auf die Beherrschung eines abgesonderten Ge¬
dankenkreises, nämlich des religiös dogmatischen, des jenseitigen, sonntäglichen;
so weiß der sächsische Landmann, wenn er auch noch so orthodox ist, sehr wohl
sich ein rein weltliches Urtheil über seine materiellen und die allgemeinen po¬
litischen Angelegenheiten zu bewahren, wie z. B. die Landbewohner des
Fürstenthums Hildesheim trotz ihres eifrigen Katholicismus entschieden frei¬
sinnig sind. So wenig also der sächsische Landmann sich in seinen politischen
und weltlichen Ansichten durch die Religion regieren läßt, so sehr ist er da¬
gegen bereit, aus derselben die Beweise für seine politischen und socialen An¬
sichten zu entnehmen, und keine Taktik ist der sächsischen Landbevölkerung
geläufiger, als die religiös politische. Die Religion ist ihm, wenn auch un¬
bewußt, ebenso oft ein Nechtfcrtigungsmittel seiner weltlichen Vergehen, als
der ungläubigen Diplomatie.

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[0294] Freuden fehlt, wird die Religion leicht seine geistige Hauptbeschäftigung werden, und die Gefahr der religiösen Grübelei nahe sein. Beides ist oft bei dem säch¬ sischen Landmann der Fall, dessen Bibliothek gewöhnlich aus Bibel, Gesang- und Gebetbuch, nebst Katechismus und Schulbüchern für die Kinder, und einem einzigen weltlichen Buche, dem Kalender besteht, welchem letztern er ge¬ meinlich denselben abergläubischen Glauben schenkt, als in der Heidenzeit den Wahrsagemitteln. Der sächsische Landmann ist bekanntlich in der großen Mehrzahl protestantisch, und zwar eifrigst, so daß sein höchster Ausruf des un¬ willigen Aergers die Worte sind: „Dies ist ja zum Katholischwerden!" aber er ist nicht zelotisch intolerant und noch weniger dem Pastor unbedingt ge¬ horsam, denn er ist in seiner Bibel wohlbewandert, und prüft an ihr die Vorträge des Predigers, die ihm freilich selten orthodox genug sind und durch eine tüchtige Dosis moralischer Kapuzinaden in Werth bei ihm steigen; aber selbst in den katholischen' Gegenden ist an keine unbedingte Priesterherrschaft zu denken, da der Landmann es sich auch hier nicht nehmen läßt, sein eignes Urtheil über den Pastor und viele Religionspunkte zu haben, und bei vielen besteht der katholische Eiser in nichts Anderem, als der Lust an der Vertheidi¬ gung ihrer Kirche als Partei und der norddeutschen Rechthaberei; grade in den erzkatholischen Gegenden hört man gewöhnlich die freiesten Aeußerungen über Pastor und Kirche, wie z. B. die Gebildeten wie Ungebildeten im Münsterschen nur deshalb so eifrig im Katholicismus sind, weil die Preußen Protestanten sind. So sind auch die verschiedenen frommen Sektirer unter den Protestanten es vielmehr aus Oppositionssucht, als aus einem religiösen Bedürfnisse. Die Religion durchdringt eben nicht mehr das ganze Leben und die Denkweise des gemeinen Mannes, wie eS in der Reformationszeit der Fall war, sondern beschränkt sich größtentheils auf die Beherrschung eines abgesonderten Ge¬ dankenkreises, nämlich des religiös dogmatischen, des jenseitigen, sonntäglichen; so weiß der sächsische Landmann, wenn er auch noch so orthodox ist, sehr wohl sich ein rein weltliches Urtheil über seine materiellen und die allgemeinen po¬ litischen Angelegenheiten zu bewahren, wie z. B. die Landbewohner des Fürstenthums Hildesheim trotz ihres eifrigen Katholicismus entschieden frei¬ sinnig sind. So wenig also der sächsische Landmann sich in seinen politischen und weltlichen Ansichten durch die Religion regieren läßt, so sehr ist er da¬ gegen bereit, aus derselben die Beweise für seine politischen und socialen An¬ sichten zu entnehmen, und keine Taktik ist der sächsischen Landbevölkerung geläufiger, als die religiös politische. Die Religion ist ihm, wenn auch un¬ bewußt, ebenso oft ein Nechtfcrtigungsmittel seiner weltlichen Vergehen, als der ungläubigen Diplomatie. Da eine solche Religiosität nicht im Stande ist, das weltliche Denken und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/294>, abgerufen am 27.07.2024.