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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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und Glaube. Der erste erzählt in einer Art Monolog den Eindruck Spinozas
aus ein kräftiges und unverdorbenes Gemüth. Die absolute Herrschaft des
Naturgesetzes über alle Erscheinungen der geistigen wie der physischen Welt
wird mit erschütternder Anschaulichkeit entwickelt. Durch strenges und con-
sequentes Nachdenken überzeugt sich der Mensch, daß seine Ideen, seine Willens¬
acte, kurz das ganze Gebiet seiner vermeintlichen Freiheit nichts Anderes ist,
als ein ganz nothwendiger Ausfluß eben jenes Naturgesetzes, das auch in dem
untergeordneten Leben sich offenbart, daß es ein wirkliches Reich der Freiheit
ebensowenig gibt, wie ein Reich der Wunder, daß man aber die Entstehung
der Idee der Freiheit sehr bequem aus jenem Naturgesetz herleiten kann,
weil sie nur ein Ausdruck der Entzweiung ist, die durch die Einwirkung zweier
verschiedener Naturkräfte in dem menschlichen Bewußtsein entsteht. Es wird
erkannt, daß der Mensch nothwendigerweise die Sehnsucht nach Freiheit, d. h.
nach Unabhängigkeit von dem Naturgesetz empfinden müsse, daß er sich aber
ebensowenig des Nachdenkens erwehren könne, welches ihn endlich davon über¬
zeugen müsse, daß die Freiheit nur eine Illusion sei. So scheint denn die
Bestimmung des Menschen die vollendete Unseligkcit zu sein.

Der zweite Theil ist in dialogischer Form geschrieben. Ein "Geist" setzt
sich mit dem einsamen Denker in Rapport und sucht ihn von dem quälenden
Gedanken dieser Naturnothwendigkeit dadurch zu befreien, daß er ihm nachweist,
diese ganze Natur sammt ihrem Gesetz sei für ihn nirgend anders, als in seinem
eignen Denken. Auch in diesem Abschnitt wird der Eindruck der "Kritik der
reinen Vernunft" auf ein von Zweifeln gequältes Gemüth vortrefflich ge¬
schildert. In einer höchst interessanten Dialektik lösen sich die vermeintlichen
Naturgesetze und Naturgewalten in bloße Denkbestimmungen auf, deren Realität
in keiner Weise nachzuweisen sei, weil das "Ich" oder die Intelligenz niemals
aus sich selbst oder aus dem Reich der Gedanken heraustreten könne. Durch
diesen Denkproceß wird nach der Ansicht des Verfassers dem Geiste die Freiheit
von den Naturbedingungen wiedergegeben; aber er erkauft diesen Gewinn durch
ein schweres Opfer, nämlich durch den Verlust der gesammten Realität, nach
der er eine ebenso tiefe und nothwendige Sehnsucht empfindet, als nach der
Freiheit. In "dieser ErPosition zeigt sich der große Einfluß JacobiS, der dem
Verfasser alle glühenden Farben seiner Phantasie leihen muß, um das Ent¬
setzen des vereinsamten Ich von dieser Welt der Gespenster zu schildern.

Wenn man diese beiden Abschnitte miteinander vergleicht, so wird man
zunächst darüber befremdet, daß Fichte einen Gegensatz zu finden glaubt, wo
eigentlich vollständige Uebereinstimmung herrscht. Denn jene Denkbestimmungen
deö zweiten Theils sind im wesentlichen nichts Anderes, als die Natur¬
bestimmungen des ersten, und dem Ich kann es ziemlich gleichgültig sein, ob
es die gegebene und unvermeidliche Nothwendigkeit in der sogenannten Natur


und Glaube. Der erste erzählt in einer Art Monolog den Eindruck Spinozas
aus ein kräftiges und unverdorbenes Gemüth. Die absolute Herrschaft des
Naturgesetzes über alle Erscheinungen der geistigen wie der physischen Welt
wird mit erschütternder Anschaulichkeit entwickelt. Durch strenges und con-
sequentes Nachdenken überzeugt sich der Mensch, daß seine Ideen, seine Willens¬
acte, kurz das ganze Gebiet seiner vermeintlichen Freiheit nichts Anderes ist,
als ein ganz nothwendiger Ausfluß eben jenes Naturgesetzes, das auch in dem
untergeordneten Leben sich offenbart, daß es ein wirkliches Reich der Freiheit
ebensowenig gibt, wie ein Reich der Wunder, daß man aber die Entstehung
der Idee der Freiheit sehr bequem aus jenem Naturgesetz herleiten kann,
weil sie nur ein Ausdruck der Entzweiung ist, die durch die Einwirkung zweier
verschiedener Naturkräfte in dem menschlichen Bewußtsein entsteht. Es wird
erkannt, daß der Mensch nothwendigerweise die Sehnsucht nach Freiheit, d. h.
nach Unabhängigkeit von dem Naturgesetz empfinden müsse, daß er sich aber
ebensowenig des Nachdenkens erwehren könne, welches ihn endlich davon über¬
zeugen müsse, daß die Freiheit nur eine Illusion sei. So scheint denn die
Bestimmung des Menschen die vollendete Unseligkcit zu sein.

Der zweite Theil ist in dialogischer Form geschrieben. Ein „Geist" setzt
sich mit dem einsamen Denker in Rapport und sucht ihn von dem quälenden
Gedanken dieser Naturnothwendigkeit dadurch zu befreien, daß er ihm nachweist,
diese ganze Natur sammt ihrem Gesetz sei für ihn nirgend anders, als in seinem
eignen Denken. Auch in diesem Abschnitt wird der Eindruck der „Kritik der
reinen Vernunft" auf ein von Zweifeln gequältes Gemüth vortrefflich ge¬
schildert. In einer höchst interessanten Dialektik lösen sich die vermeintlichen
Naturgesetze und Naturgewalten in bloße Denkbestimmungen auf, deren Realität
in keiner Weise nachzuweisen sei, weil das „Ich" oder die Intelligenz niemals
aus sich selbst oder aus dem Reich der Gedanken heraustreten könne. Durch
diesen Denkproceß wird nach der Ansicht des Verfassers dem Geiste die Freiheit
von den Naturbedingungen wiedergegeben; aber er erkauft diesen Gewinn durch
ein schweres Opfer, nämlich durch den Verlust der gesammten Realität, nach
der er eine ebenso tiefe und nothwendige Sehnsucht empfindet, als nach der
Freiheit. In "dieser ErPosition zeigt sich der große Einfluß JacobiS, der dem
Verfasser alle glühenden Farben seiner Phantasie leihen muß, um das Ent¬
setzen des vereinsamten Ich von dieser Welt der Gespenster zu schildern.

Wenn man diese beiden Abschnitte miteinander vergleicht, so wird man
zunächst darüber befremdet, daß Fichte einen Gegensatz zu finden glaubt, wo
eigentlich vollständige Uebereinstimmung herrscht. Denn jene Denkbestimmungen
deö zweiten Theils sind im wesentlichen nichts Anderes, als die Natur¬
bestimmungen des ersten, und dem Ich kann es ziemlich gleichgültig sein, ob
es die gegebene und unvermeidliche Nothwendigkeit in der sogenannten Natur


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[0264] und Glaube. Der erste erzählt in einer Art Monolog den Eindruck Spinozas aus ein kräftiges und unverdorbenes Gemüth. Die absolute Herrschaft des Naturgesetzes über alle Erscheinungen der geistigen wie der physischen Welt wird mit erschütternder Anschaulichkeit entwickelt. Durch strenges und con- sequentes Nachdenken überzeugt sich der Mensch, daß seine Ideen, seine Willens¬ acte, kurz das ganze Gebiet seiner vermeintlichen Freiheit nichts Anderes ist, als ein ganz nothwendiger Ausfluß eben jenes Naturgesetzes, das auch in dem untergeordneten Leben sich offenbart, daß es ein wirkliches Reich der Freiheit ebensowenig gibt, wie ein Reich der Wunder, daß man aber die Entstehung der Idee der Freiheit sehr bequem aus jenem Naturgesetz herleiten kann, weil sie nur ein Ausdruck der Entzweiung ist, die durch die Einwirkung zweier verschiedener Naturkräfte in dem menschlichen Bewußtsein entsteht. Es wird erkannt, daß der Mensch nothwendigerweise die Sehnsucht nach Freiheit, d. h. nach Unabhängigkeit von dem Naturgesetz empfinden müsse, daß er sich aber ebensowenig des Nachdenkens erwehren könne, welches ihn endlich davon über¬ zeugen müsse, daß die Freiheit nur eine Illusion sei. So scheint denn die Bestimmung des Menschen die vollendete Unseligkcit zu sein. Der zweite Theil ist in dialogischer Form geschrieben. Ein „Geist" setzt sich mit dem einsamen Denker in Rapport und sucht ihn von dem quälenden Gedanken dieser Naturnothwendigkeit dadurch zu befreien, daß er ihm nachweist, diese ganze Natur sammt ihrem Gesetz sei für ihn nirgend anders, als in seinem eignen Denken. Auch in diesem Abschnitt wird der Eindruck der „Kritik der reinen Vernunft" auf ein von Zweifeln gequältes Gemüth vortrefflich ge¬ schildert. In einer höchst interessanten Dialektik lösen sich die vermeintlichen Naturgesetze und Naturgewalten in bloße Denkbestimmungen auf, deren Realität in keiner Weise nachzuweisen sei, weil das „Ich" oder die Intelligenz niemals aus sich selbst oder aus dem Reich der Gedanken heraustreten könne. Durch diesen Denkproceß wird nach der Ansicht des Verfassers dem Geiste die Freiheit von den Naturbedingungen wiedergegeben; aber er erkauft diesen Gewinn durch ein schweres Opfer, nämlich durch den Verlust der gesammten Realität, nach der er eine ebenso tiefe und nothwendige Sehnsucht empfindet, als nach der Freiheit. In "dieser ErPosition zeigt sich der große Einfluß JacobiS, der dem Verfasser alle glühenden Farben seiner Phantasie leihen muß, um das Ent¬ setzen des vereinsamten Ich von dieser Welt der Gespenster zu schildern. Wenn man diese beiden Abschnitte miteinander vergleicht, so wird man zunächst darüber befremdet, daß Fichte einen Gegensatz zu finden glaubt, wo eigentlich vollständige Uebereinstimmung herrscht. Denn jene Denkbestimmungen deö zweiten Theils sind im wesentlichen nichts Anderes, als die Natur¬ bestimmungen des ersten, und dem Ich kann es ziemlich gleichgültig sein, ob es die gegebene und unvermeidliche Nothwendigkeit in der sogenannten Natur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/264>, abgerufen am 27.07.2024.