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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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dazu, um diesen Trost anzunehmen. Wenn aber Fichte aus dem Gewissen
nicht blos die Existenz Gottes und der Welt im allgemeinen, sondern auch der
endlichen realen Dinge herzuleiten unternahm, so konnte er die scharfsinnigsten
Deductionen anwenden und doch mußte alle Welt sagen: hier ist irgend ein
Trugschluß; denn der Glaube an die Existenz der Dinge wird nicht aus dem
Gewissen hergeleitet. Hunde, Katzen, Ochsen u. s. w. haben auch ein Bewußt¬
sein von der Existenz der Dinge und sie haben doch weder ein theoretisches
noch ein praktisches Gewissen, sie gehören nicht in die Kategorie der Jede.

Dies ist der Punkt, in welchem die UnVerständlichkeit der neueren Philo¬
sophie gipfelt. An sich hat Fichte ein sehr großes dialektisches Talent: seine
einzelnen Sätze verstehen wir vollkommen, aber wir sind nicht im Stande, uns
sofort das Ziel seines Gedankengangs klar zu machen. Fichte hat selbst diese
UnVerständlichkeit, wenn er sie auch zuweilen aus der vollständigen Stumpf¬
sinnigkeit der meisten Menschen, namentlich der Philosophen, erklärte, als einen
Mangel an Geschick sehr wohl empfunden. Er schreibt z. B. an Jacobi und
Reinhold mehrmals, seine Form sei ungeschickt, sie sollten sich nicht abschrecken
lassen, wenn sie aus ein paar Seiten nicht klug würden, sie sollten weiterlesen,
bis sie aus einen Punkt kämen, in dem ihnen ein Licht aufginge, und in diesem
Richte sollten sie das vorige noch einmal reflectiren lassen. Er hat auch mehre
Male versucht, die Wissenschaftslehre von einem neuen Punkte aufzufassen;
aber seine Klage über den Unverstand des Publicums ist immer die nämliche
geblieben, ja eigentlich hätte er sich über seine Anhänger, z. B. die Schlegel,
am meisten beklagen sollen, die in seine Philosophie ganz fremdartige Dinge
hmeinphantasirten. Vielleicht ist die Neigung, die vor ihm schon Spinoza,,
nach ihm alle übrigen Philosophen zeigten, den Begriff der Wissenschaft aus
der Mathematik herzuleiten, schuld an dieser UnVerständlichkeit. In allen übrigen
Wissenschaften greift man von den verschiedenartigsten Punkten in das Leben
hinein, wenn man auch einem letzten einheitlichen Ziel zustrebt; in der Mathe¬
matik dagegen beginnt, man mit einer einfachen Abstraction und baut auf dieser
das ganze Gebäude der Wissenschaft fort. Allein die Mathematik unterscheidet
sich in zweierlei von der Philosophie; einmal bleibt sie in der That bei der
Abstraction stehen, sie operirt nur mit dem Begriff der Größe und geht über
denselben nicht heraus, sie kennt nur identische Sätze, soweit sich auch scheinbar
der Kreis ausdehnt; sodann hat sie in jedem Augenblick das Mittel, ihre ab-
stract vorgetragenen und abstract bewiesenen Sätze nachträglich aä oculos zu
demonstriren und die Richtigkeit in der Anwendung zu erproben. Beides fehlt
der Philosophie. Denn im reinen Denken kann sie nicht bleiben, weil es kein
reines, von der gegenständlichen Welt absolut getrenntes Denken gibt; sie muß sich
wie concreten Gedanken erfüllen, und diese kann sie aus ihrem ersten abstracten
Principe nicht herleiten. Es zeigt sich das in sämmtlichen Schriften Fichtes.


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dazu, um diesen Trost anzunehmen. Wenn aber Fichte aus dem Gewissen
nicht blos die Existenz Gottes und der Welt im allgemeinen, sondern auch der
endlichen realen Dinge herzuleiten unternahm, so konnte er die scharfsinnigsten
Deductionen anwenden und doch mußte alle Welt sagen: hier ist irgend ein
Trugschluß; denn der Glaube an die Existenz der Dinge wird nicht aus dem
Gewissen hergeleitet. Hunde, Katzen, Ochsen u. s. w. haben auch ein Bewußt¬
sein von der Existenz der Dinge und sie haben doch weder ein theoretisches
noch ein praktisches Gewissen, sie gehören nicht in die Kategorie der Jede.

Dies ist der Punkt, in welchem die UnVerständlichkeit der neueren Philo¬
sophie gipfelt. An sich hat Fichte ein sehr großes dialektisches Talent: seine
einzelnen Sätze verstehen wir vollkommen, aber wir sind nicht im Stande, uns
sofort das Ziel seines Gedankengangs klar zu machen. Fichte hat selbst diese
UnVerständlichkeit, wenn er sie auch zuweilen aus der vollständigen Stumpf¬
sinnigkeit der meisten Menschen, namentlich der Philosophen, erklärte, als einen
Mangel an Geschick sehr wohl empfunden. Er schreibt z. B. an Jacobi und
Reinhold mehrmals, seine Form sei ungeschickt, sie sollten sich nicht abschrecken
lassen, wenn sie aus ein paar Seiten nicht klug würden, sie sollten weiterlesen,
bis sie aus einen Punkt kämen, in dem ihnen ein Licht aufginge, und in diesem
Richte sollten sie das vorige noch einmal reflectiren lassen. Er hat auch mehre
Male versucht, die Wissenschaftslehre von einem neuen Punkte aufzufassen;
aber seine Klage über den Unverstand des Publicums ist immer die nämliche
geblieben, ja eigentlich hätte er sich über seine Anhänger, z. B. die Schlegel,
am meisten beklagen sollen, die in seine Philosophie ganz fremdartige Dinge
hmeinphantasirten. Vielleicht ist die Neigung, die vor ihm schon Spinoza,,
nach ihm alle übrigen Philosophen zeigten, den Begriff der Wissenschaft aus
der Mathematik herzuleiten, schuld an dieser UnVerständlichkeit. In allen übrigen
Wissenschaften greift man von den verschiedenartigsten Punkten in das Leben
hinein, wenn man auch einem letzten einheitlichen Ziel zustrebt; in der Mathe¬
matik dagegen beginnt, man mit einer einfachen Abstraction und baut auf dieser
das ganze Gebäude der Wissenschaft fort. Allein die Mathematik unterscheidet
sich in zweierlei von der Philosophie; einmal bleibt sie in der That bei der
Abstraction stehen, sie operirt nur mit dem Begriff der Größe und geht über
denselben nicht heraus, sie kennt nur identische Sätze, soweit sich auch scheinbar
der Kreis ausdehnt; sodann hat sie in jedem Augenblick das Mittel, ihre ab-
stract vorgetragenen und abstract bewiesenen Sätze nachträglich aä oculos zu
demonstriren und die Richtigkeit in der Anwendung zu erproben. Beides fehlt
der Philosophie. Denn im reinen Denken kann sie nicht bleiben, weil es kein
reines, von der gegenständlichen Welt absolut getrenntes Denken gibt; sie muß sich
wie concreten Gedanken erfüllen, und diese kann sie aus ihrem ersten abstracten
Principe nicht herleiten. Es zeigt sich das in sämmtlichen Schriften Fichtes.


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[0259] dazu, um diesen Trost anzunehmen. Wenn aber Fichte aus dem Gewissen nicht blos die Existenz Gottes und der Welt im allgemeinen, sondern auch der endlichen realen Dinge herzuleiten unternahm, so konnte er die scharfsinnigsten Deductionen anwenden und doch mußte alle Welt sagen: hier ist irgend ein Trugschluß; denn der Glaube an die Existenz der Dinge wird nicht aus dem Gewissen hergeleitet. Hunde, Katzen, Ochsen u. s. w. haben auch ein Bewußt¬ sein von der Existenz der Dinge und sie haben doch weder ein theoretisches noch ein praktisches Gewissen, sie gehören nicht in die Kategorie der Jede. Dies ist der Punkt, in welchem die UnVerständlichkeit der neueren Philo¬ sophie gipfelt. An sich hat Fichte ein sehr großes dialektisches Talent: seine einzelnen Sätze verstehen wir vollkommen, aber wir sind nicht im Stande, uns sofort das Ziel seines Gedankengangs klar zu machen. Fichte hat selbst diese UnVerständlichkeit, wenn er sie auch zuweilen aus der vollständigen Stumpf¬ sinnigkeit der meisten Menschen, namentlich der Philosophen, erklärte, als einen Mangel an Geschick sehr wohl empfunden. Er schreibt z. B. an Jacobi und Reinhold mehrmals, seine Form sei ungeschickt, sie sollten sich nicht abschrecken lassen, wenn sie aus ein paar Seiten nicht klug würden, sie sollten weiterlesen, bis sie aus einen Punkt kämen, in dem ihnen ein Licht aufginge, und in diesem Richte sollten sie das vorige noch einmal reflectiren lassen. Er hat auch mehre Male versucht, die Wissenschaftslehre von einem neuen Punkte aufzufassen; aber seine Klage über den Unverstand des Publicums ist immer die nämliche geblieben, ja eigentlich hätte er sich über seine Anhänger, z. B. die Schlegel, am meisten beklagen sollen, die in seine Philosophie ganz fremdartige Dinge hmeinphantasirten. Vielleicht ist die Neigung, die vor ihm schon Spinoza,, nach ihm alle übrigen Philosophen zeigten, den Begriff der Wissenschaft aus der Mathematik herzuleiten, schuld an dieser UnVerständlichkeit. In allen übrigen Wissenschaften greift man von den verschiedenartigsten Punkten in das Leben hinein, wenn man auch einem letzten einheitlichen Ziel zustrebt; in der Mathe¬ matik dagegen beginnt, man mit einer einfachen Abstraction und baut auf dieser das ganze Gebäude der Wissenschaft fort. Allein die Mathematik unterscheidet sich in zweierlei von der Philosophie; einmal bleibt sie in der That bei der Abstraction stehen, sie operirt nur mit dem Begriff der Größe und geht über denselben nicht heraus, sie kennt nur identische Sätze, soweit sich auch scheinbar der Kreis ausdehnt; sodann hat sie in jedem Augenblick das Mittel, ihre ab- stract vorgetragenen und abstract bewiesenen Sätze nachträglich aä oculos zu demonstriren und die Richtigkeit in der Anwendung zu erproben. Beides fehlt der Philosophie. Denn im reinen Denken kann sie nicht bleiben, weil es kein reines, von der gegenständlichen Welt absolut getrenntes Denken gibt; sie muß sich wie concreten Gedanken erfüllen, und diese kann sie aus ihrem ersten abstracten Principe nicht herleiten. Es zeigt sich das in sämmtlichen Schriften Fichtes. 32"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/259>, abgerufen am 27.07.2024.