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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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souveränen Unverstand der Demokratie, als gegen die nichtige Wichtigthuerei
höfischer und aristokratischer Kreise auflehnt, tritt zuweilen in einer Stärke aus,
die manchem mit der Idee historischer Objectivität zu streiten scheinen wird. Sie
hat aber stets einen edlen sittlichen Grund und leidet nur zuweilen an einer
gewissen Unruhe und Paradoric des Ausdrucks. Dazu rechnen wir z. B. die
zu große Ausdehnung in der Polemik gegen die sogenannte Gefühlspolitik.
Der Verfasser hebt es mehrmals mit großer Schärfe hervor, daß der Gott, der
die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht, nicht der Gott der Geschichte
sei: und in dem Sinne, in dem das hier gesagt wird, ist es auch richtig. Aber
solche Sätze können leicht mißverstanden werden, und wer dazu befähigt und
berufen ist, das Volk aufzuklären, muß sich vor allen Dingen davor hüten, den
sophistischen Vertretern des Unrechts neue Handhaben zu geben. Je höher in den
verschiedensten Perioden die Bildung, je leichter fühlt man sich versucht, individuelle
Wahrheiten zu verallgemeinern. So macht z. B. einmal Herr Mommsen die Be¬
merkung, die gleichmäßige Urteilslosigkeit des Haufens müßte den belehren, der an
den Fortschritt der Menschheit glaubt. Er vergißt aber dabei, daß der Haufe
gewiß der ungeeignetste Träger des Fortschritts ist. Wir machen auf diesen
Umstand nur darum aufmerksam, weil manche Leser durch vereinzelte aber recht
handgreifliche Paradorien am meisten angeregt werden: es sind hier eben nur
vereinzelte Paradorien, die auf den ganzen Gang nicht den geringsten Einfluß
ausüben. -- Endlich bezeichnen wir als ein Hauptverdienst des Buchs das
glänzende plastische Talent, das zum Theil freilich auf der sichern Methode
in der Zusammenstellung der Thatsachen beruht, zum Theil aber auch etwas
Angebornes ist, was über alle Methode hinausgeht. Dieses Talent entfaltet
sich am glänzendsten in den Charakteristiken von Personen und Zuständen, von
denen wir gern, eine größere Probe mittheilen würden, wenn nicht das Maß
unsrer Zeitschrift schon ohnehin überschritten wäre. Den Leser machen
wir namentlich auf die Charakteristiken von Pyrrhus, Seite 2Si, Scipio Afri-
canus, Seite iSI und 670 und Philipp von Macedonien, Seite in-I aufmerk¬
sam. An sie schließen sich.zunächst Hannibal, Perseus und Antiochus. Es ist
in diesen Darstellungen ein feiner psychologischer Blick, eine Einsicht in die
menschliche Natur im allgemeinen und eine Vielseitigkeit in der Auffassung
charakteristischer Momente, daß man jede dieser Schilderungen als ein kleines
Meisterstück betrachten kann. Gern hätten wir gesehen, daß uns der Verfasser
neben Scipio auch das Bild einer von den altrömischen Notabilitäten auf¬
gestellt hätte, ungefähr in der Weise, wie es Schlosser mit Cato gethan. Am
meisten hätte sich dazu der alte Appius Claudius geeignet, der im Kriege mit
Pyrrhus als blinder Greis die Verwerfung der Friedensanträge durchsetzte
und für den Herr Mommsen eine besondere Vorliebe zeigt. Zerstreuter Be¬
merkungen über ihn begegnen wir in allen Theilen des Buchs; eine Zu-


souveränen Unverstand der Demokratie, als gegen die nichtige Wichtigthuerei
höfischer und aristokratischer Kreise auflehnt, tritt zuweilen in einer Stärke aus,
die manchem mit der Idee historischer Objectivität zu streiten scheinen wird. Sie
hat aber stets einen edlen sittlichen Grund und leidet nur zuweilen an einer
gewissen Unruhe und Paradoric des Ausdrucks. Dazu rechnen wir z. B. die
zu große Ausdehnung in der Polemik gegen die sogenannte Gefühlspolitik.
Der Verfasser hebt es mehrmals mit großer Schärfe hervor, daß der Gott, der
die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht, nicht der Gott der Geschichte
sei: und in dem Sinne, in dem das hier gesagt wird, ist es auch richtig. Aber
solche Sätze können leicht mißverstanden werden, und wer dazu befähigt und
berufen ist, das Volk aufzuklären, muß sich vor allen Dingen davor hüten, den
sophistischen Vertretern des Unrechts neue Handhaben zu geben. Je höher in den
verschiedensten Perioden die Bildung, je leichter fühlt man sich versucht, individuelle
Wahrheiten zu verallgemeinern. So macht z. B. einmal Herr Mommsen die Be¬
merkung, die gleichmäßige Urteilslosigkeit des Haufens müßte den belehren, der an
den Fortschritt der Menschheit glaubt. Er vergißt aber dabei, daß der Haufe
gewiß der ungeeignetste Träger des Fortschritts ist. Wir machen auf diesen
Umstand nur darum aufmerksam, weil manche Leser durch vereinzelte aber recht
handgreifliche Paradorien am meisten angeregt werden: es sind hier eben nur
vereinzelte Paradorien, die auf den ganzen Gang nicht den geringsten Einfluß
ausüben. — Endlich bezeichnen wir als ein Hauptverdienst des Buchs das
glänzende plastische Talent, das zum Theil freilich auf der sichern Methode
in der Zusammenstellung der Thatsachen beruht, zum Theil aber auch etwas
Angebornes ist, was über alle Methode hinausgeht. Dieses Talent entfaltet
sich am glänzendsten in den Charakteristiken von Personen und Zuständen, von
denen wir gern, eine größere Probe mittheilen würden, wenn nicht das Maß
unsrer Zeitschrift schon ohnehin überschritten wäre. Den Leser machen
wir namentlich auf die Charakteristiken von Pyrrhus, Seite 2Si, Scipio Afri-
canus, Seite iSI und 670 und Philipp von Macedonien, Seite in-I aufmerk¬
sam. An sie schließen sich.zunächst Hannibal, Perseus und Antiochus. Es ist
in diesen Darstellungen ein feiner psychologischer Blick, eine Einsicht in die
menschliche Natur im allgemeinen und eine Vielseitigkeit in der Auffassung
charakteristischer Momente, daß man jede dieser Schilderungen als ein kleines
Meisterstück betrachten kann. Gern hätten wir gesehen, daß uns der Verfasser
neben Scipio auch das Bild einer von den altrömischen Notabilitäten auf¬
gestellt hätte, ungefähr in der Weise, wie es Schlosser mit Cato gethan. Am
meisten hätte sich dazu der alte Appius Claudius geeignet, der im Kriege mit
Pyrrhus als blinder Greis die Verwerfung der Friedensanträge durchsetzte
und für den Herr Mommsen eine besondere Vorliebe zeigt. Zerstreuter Be¬
merkungen über ihn begegnen wir in allen Theilen des Buchs; eine Zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/14>, abgerufen am 01.09.2024.