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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Hegel unterschied sich von Herder zunächst durch eine tiefere historische Kenntniß,
sodann aber, was noch wichtiger ist, und was mit jenem ersten keineswegs
immer zusammenfällt, durch einen tieferen historischen Sinn. Er hatte eine
warme und fcstgegründete Ehrfurcht vor aller geschichtlichen Kraftentwicklung,
und war sehr liberal gegen alle Formen, in denen dieselbe sich äußerte. Es
konnte ihm daher nicht einfallen, die gewaltigste Erscheinung der Geschichte,
wenn man das Christenthum ausnimmt, als einen sinnlosen Abfall von den
regelmäßigen Tendenzen der Weltgeschichte zu verurtheilen. Er stellt in großen
und unauslöschlichen Zügen die Mängel der griechischen und orientalischen
Bildung, an der auch sein Herz am lebhaftesten hängt, zusammen, und zeigt,
wie sie durch den mächtigen, aber einseitigen Gedanken des Römerthums gleich¬
sam ausgerissen werden mußte, um für die Nachwelt aufbewahrt zu bleiben.
Allein so bewunderungswürdig seine Constrmtion des Gegensatzes ist, so läßt
sich nicht leugnen, daß er bei seiner Beurtheilung des Römerthums den¬
noch sehr einseitig verfuhr, daß ihm im Grunde noch immer jene Mythen vor¬
schwebten, in denen nur die eine Seite des Römerthums, nur die Macht der
Abstraction, des Entschlusses, des consequent auf einen Zweck gerichteten Wollens
verherrlicht wurde, in denen aber der großartige Naturproceß der römischen Ge¬
schichte keine Stelle fand.

Als man nun in Deutschland der Speculation und des gegenstandlosen,
schattenhaften Kunsttreibens müde wurde, trat im Gegensatz zur philosophischen
Geschichtschreibung die sogenannte historische Schule hervor, die ihr Studium
zunächst wiederum auf die römische Geschichte wandte. Die Zeit, in welcher
die philosophische Schule sich bildete, litt daran, daß ihr der ästhetische Ma߬
stab über alle anderen ging. In der neuen Schule wurde daher zunächst dieses
ästhetische Ideal, diese Heiligung des schönen individuellen Lebens über Bord
geworfen. Savigny und Niebuhr, die beiden großen Namen, an welche die
historische Schule sich knüpft, gingen vorzugsweise von der juristischen und
staatswirthschaftlichen Bildung aus, obgleich auch ihre philologische Gelehrsam¬
keit bei weitem das gewöhnliche Maß überstieg. Sie richteten die Aufmerksam¬
keit auf einen Punkt, über den man bisher mit dem größten Leichtsinn hin¬
weggegangen war, daß es nämlich allen Analogien der Geschichte und allen
Begriffen eines Causalueruö widersprach, sich ein vollkommenes, durch und durch
consequentes und dem concreten Leben aller Zeiten entsprechendes Rechtssystem
in einem Volk entstanden zu denken, welches ohne alle sittliche Traditionen aus
einer Sammlung von Uebelthätern aller möglichen Stämme hervorgegangen
sein sollte. Dieser sittliche Grundgedanke ist es, was Niebuhrs historische
Kritik von den frühern Zweifeln an der Echtheit der römischen Ueberlieferung
unterschied. Nicht die einzelnen Widersprüche in den Thatsachen, mit denen
mancher auch in der christlichen Geschichte eine ganz unglaubliche Klein-


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Hegel unterschied sich von Herder zunächst durch eine tiefere historische Kenntniß,
sodann aber, was noch wichtiger ist, und was mit jenem ersten keineswegs
immer zusammenfällt, durch einen tieferen historischen Sinn. Er hatte eine
warme und fcstgegründete Ehrfurcht vor aller geschichtlichen Kraftentwicklung,
und war sehr liberal gegen alle Formen, in denen dieselbe sich äußerte. Es
konnte ihm daher nicht einfallen, die gewaltigste Erscheinung der Geschichte,
wenn man das Christenthum ausnimmt, als einen sinnlosen Abfall von den
regelmäßigen Tendenzen der Weltgeschichte zu verurtheilen. Er stellt in großen
und unauslöschlichen Zügen die Mängel der griechischen und orientalischen
Bildung, an der auch sein Herz am lebhaftesten hängt, zusammen, und zeigt,
wie sie durch den mächtigen, aber einseitigen Gedanken des Römerthums gleich¬
sam ausgerissen werden mußte, um für die Nachwelt aufbewahrt zu bleiben.
Allein so bewunderungswürdig seine Constrmtion des Gegensatzes ist, so läßt
sich nicht leugnen, daß er bei seiner Beurtheilung des Römerthums den¬
noch sehr einseitig verfuhr, daß ihm im Grunde noch immer jene Mythen vor¬
schwebten, in denen nur die eine Seite des Römerthums, nur die Macht der
Abstraction, des Entschlusses, des consequent auf einen Zweck gerichteten Wollens
verherrlicht wurde, in denen aber der großartige Naturproceß der römischen Ge¬
schichte keine Stelle fand.

Als man nun in Deutschland der Speculation und des gegenstandlosen,
schattenhaften Kunsttreibens müde wurde, trat im Gegensatz zur philosophischen
Geschichtschreibung die sogenannte historische Schule hervor, die ihr Studium
zunächst wiederum auf die römische Geschichte wandte. Die Zeit, in welcher
die philosophische Schule sich bildete, litt daran, daß ihr der ästhetische Ma߬
stab über alle anderen ging. In der neuen Schule wurde daher zunächst dieses
ästhetische Ideal, diese Heiligung des schönen individuellen Lebens über Bord
geworfen. Savigny und Niebuhr, die beiden großen Namen, an welche die
historische Schule sich knüpft, gingen vorzugsweise von der juristischen und
staatswirthschaftlichen Bildung aus, obgleich auch ihre philologische Gelehrsam¬
keit bei weitem das gewöhnliche Maß überstieg. Sie richteten die Aufmerksam¬
keit auf einen Punkt, über den man bisher mit dem größten Leichtsinn hin¬
weggegangen war, daß es nämlich allen Analogien der Geschichte und allen
Begriffen eines Causalueruö widersprach, sich ein vollkommenes, durch und durch
consequentes und dem concreten Leben aller Zeiten entsprechendes Rechtssystem
in einem Volk entstanden zu denken, welches ohne alle sittliche Traditionen aus
einer Sammlung von Uebelthätern aller möglichen Stämme hervorgegangen
sein sollte. Dieser sittliche Grundgedanke ist es, was Niebuhrs historische
Kritik von den frühern Zweifeln an der Echtheit der römischen Ueberlieferung
unterschied. Nicht die einzelnen Widersprüche in den Thatsachen, mit denen
mancher auch in der christlichen Geschichte eine ganz unglaubliche Klein-


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[0011] Hegel unterschied sich von Herder zunächst durch eine tiefere historische Kenntniß, sodann aber, was noch wichtiger ist, und was mit jenem ersten keineswegs immer zusammenfällt, durch einen tieferen historischen Sinn. Er hatte eine warme und fcstgegründete Ehrfurcht vor aller geschichtlichen Kraftentwicklung, und war sehr liberal gegen alle Formen, in denen dieselbe sich äußerte. Es konnte ihm daher nicht einfallen, die gewaltigste Erscheinung der Geschichte, wenn man das Christenthum ausnimmt, als einen sinnlosen Abfall von den regelmäßigen Tendenzen der Weltgeschichte zu verurtheilen. Er stellt in großen und unauslöschlichen Zügen die Mängel der griechischen und orientalischen Bildung, an der auch sein Herz am lebhaftesten hängt, zusammen, und zeigt, wie sie durch den mächtigen, aber einseitigen Gedanken des Römerthums gleich¬ sam ausgerissen werden mußte, um für die Nachwelt aufbewahrt zu bleiben. Allein so bewunderungswürdig seine Constrmtion des Gegensatzes ist, so läßt sich nicht leugnen, daß er bei seiner Beurtheilung des Römerthums den¬ noch sehr einseitig verfuhr, daß ihm im Grunde noch immer jene Mythen vor¬ schwebten, in denen nur die eine Seite des Römerthums, nur die Macht der Abstraction, des Entschlusses, des consequent auf einen Zweck gerichteten Wollens verherrlicht wurde, in denen aber der großartige Naturproceß der römischen Ge¬ schichte keine Stelle fand. Als man nun in Deutschland der Speculation und des gegenstandlosen, schattenhaften Kunsttreibens müde wurde, trat im Gegensatz zur philosophischen Geschichtschreibung die sogenannte historische Schule hervor, die ihr Studium zunächst wiederum auf die römische Geschichte wandte. Die Zeit, in welcher die philosophische Schule sich bildete, litt daran, daß ihr der ästhetische Ma߬ stab über alle anderen ging. In der neuen Schule wurde daher zunächst dieses ästhetische Ideal, diese Heiligung des schönen individuellen Lebens über Bord geworfen. Savigny und Niebuhr, die beiden großen Namen, an welche die historische Schule sich knüpft, gingen vorzugsweise von der juristischen und staatswirthschaftlichen Bildung aus, obgleich auch ihre philologische Gelehrsam¬ keit bei weitem das gewöhnliche Maß überstieg. Sie richteten die Aufmerksam¬ keit auf einen Punkt, über den man bisher mit dem größten Leichtsinn hin¬ weggegangen war, daß es nämlich allen Analogien der Geschichte und allen Begriffen eines Causalueruö widersprach, sich ein vollkommenes, durch und durch consequentes und dem concreten Leben aller Zeiten entsprechendes Rechtssystem in einem Volk entstanden zu denken, welches ohne alle sittliche Traditionen aus einer Sammlung von Uebelthätern aller möglichen Stämme hervorgegangen sein sollte. Dieser sittliche Grundgedanke ist es, was Niebuhrs historische Kritik von den frühern Zweifeln an der Echtheit der römischen Ueberlieferung unterschied. Nicht die einzelnen Widersprüche in den Thatsachen, mit denen mancher auch in der christlichen Geschichte eine ganz unglaubliche Klein- 1'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/11>, abgerufen am 08.01.2025.