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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Vernunft widersprach. -- Ein fernerer Fehler dieses Romans ist die schwache
Zeichnung der bürgerlichen Gesellschaft, jener mittleren Schicht, an welcher der
doppelte Fanatismus seinen Stoff, seinen Träger und später seinen Regulator
findet. Ereentricitäten erträgt man nur, wenn man durch eine sichere Zeichnung
dieser in der Mitte stehenden Masse an'die bleibenden Eigenschaften der mensch¬
lichen Natur erinnert wird. Walter Scott thut dies stets, weil in ihm selbst der
gesunde Menschenverstand um so kräftiger war, je empfänglicher sich seine
Phantasie dem Verständniß jeder Ercentricität öffnete; bei Tieck dagegen stehen
in der Mitte nur jene verschwommene-n sentimentalen Personen ohne Fleisch
und Blut, die der excentrischen Regung weder Stoff geben, noch ihr Wider¬
stand leisten.

Es liegt in diesem Fehler zugleich ein anderer. Tieck beobachtet zuweilen
sehr sein, insofern er für excentrische Züge, namentlich sür die kleinen Schwächen
der menschlichen Natur ein scharfes Auge hat, aber er ist zu suljectiv in seiner
Beobachtung. Er gibt sich nicht unbefangen den Gegenständen hin, sondern
er sieht sie durch das Medium eines poetischen Aethers, der Farbe und Umrisse
doch sehr wesentlich verändert. Die Ercentricität findet aber nur dann ihren
Sinn, wenn wir zugleich die Empfindung der Regel, des normalen Zustandes
der Dinge haben. Wo sich die Grille als Regel geberdet, hört mit der Ver¬
wunderung auch das Interesse auf.

So ist eS ihm denn auch in seinen historischen Romanen begegnet, daß
er die Gegenstände am liebsten aus der zweiten Hand schildert, d. h. daß er
einen Dichter zu seinem Helden macht und sich bemüht, die Dinge durch das
Organ einer ihm imponirenden Phantasie aufzufassen. So hat er in der Novelle :
"der Tod des Dichters" freilich mehr äußerlich an den Schicksalen des
portugiesischen Dichters Camoens die isolirte Stelle zu zeigen gesucht, welche
die Dichtkunst der profanen Masse gegenüber einnimmt. Der Ton dieser No¬
velle ist einem Schäferroman von Cervantes nachgebildet, und die Handlung
an sich weder spannend noch belehrend., Charakteristisch ist aber die Vorstellung,
die Dichterkrone dadurch im Hellem Glanz zu zeigen, daß sie aus das Haupt eines
Bettlers gesetzt wird. Daß Camoens, der beste Dichter der Portugiesen, für die
Verherrlichung seines Vaterlandes einen schlechten Lohn empfing, daß er ge¬
nöthigt war, von Almosen zu leben, ist gewiß ein Umstand, der in der Ge¬
schichte ebenso unsern Unwillen wie unser Mitleid, rege macht. Allein wenn
uns im Gedichte dargestellt wird, wie der Dichter als armer Kavalier sich in
den Herbergen und Edelhosen bewegt, und wie ihm sein treuer Sklave heimlich
Geld und Speisen zusteckt, die er für ihn erbettelt hat, so können wir uns
eines andern Gefühls nicht erwehren, des Gefühls der Unwürdigkeit, das unser
lebendiges Interesse an dem Helden auf eine sehr bedenkliche Weise abstumpft.

Mit größerem Fleiß und tieferem Eingehen aus das innerliche Leben sind


Vernunft widersprach. — Ein fernerer Fehler dieses Romans ist die schwache
Zeichnung der bürgerlichen Gesellschaft, jener mittleren Schicht, an welcher der
doppelte Fanatismus seinen Stoff, seinen Träger und später seinen Regulator
findet. Ereentricitäten erträgt man nur, wenn man durch eine sichere Zeichnung
dieser in der Mitte stehenden Masse an'die bleibenden Eigenschaften der mensch¬
lichen Natur erinnert wird. Walter Scott thut dies stets, weil in ihm selbst der
gesunde Menschenverstand um so kräftiger war, je empfänglicher sich seine
Phantasie dem Verständniß jeder Ercentricität öffnete; bei Tieck dagegen stehen
in der Mitte nur jene verschwommene-n sentimentalen Personen ohne Fleisch
und Blut, die der excentrischen Regung weder Stoff geben, noch ihr Wider¬
stand leisten.

Es liegt in diesem Fehler zugleich ein anderer. Tieck beobachtet zuweilen
sehr sein, insofern er für excentrische Züge, namentlich sür die kleinen Schwächen
der menschlichen Natur ein scharfes Auge hat, aber er ist zu suljectiv in seiner
Beobachtung. Er gibt sich nicht unbefangen den Gegenständen hin, sondern
er sieht sie durch das Medium eines poetischen Aethers, der Farbe und Umrisse
doch sehr wesentlich verändert. Die Ercentricität findet aber nur dann ihren
Sinn, wenn wir zugleich die Empfindung der Regel, des normalen Zustandes
der Dinge haben. Wo sich die Grille als Regel geberdet, hört mit der Ver¬
wunderung auch das Interesse auf.

So ist eS ihm denn auch in seinen historischen Romanen begegnet, daß
er die Gegenstände am liebsten aus der zweiten Hand schildert, d. h. daß er
einen Dichter zu seinem Helden macht und sich bemüht, die Dinge durch das
Organ einer ihm imponirenden Phantasie aufzufassen. So hat er in der Novelle :
„der Tod des Dichters" freilich mehr äußerlich an den Schicksalen des
portugiesischen Dichters Camoens die isolirte Stelle zu zeigen gesucht, welche
die Dichtkunst der profanen Masse gegenüber einnimmt. Der Ton dieser No¬
velle ist einem Schäferroman von Cervantes nachgebildet, und die Handlung
an sich weder spannend noch belehrend., Charakteristisch ist aber die Vorstellung,
die Dichterkrone dadurch im Hellem Glanz zu zeigen, daß sie aus das Haupt eines
Bettlers gesetzt wird. Daß Camoens, der beste Dichter der Portugiesen, für die
Verherrlichung seines Vaterlandes einen schlechten Lohn empfing, daß er ge¬
nöthigt war, von Almosen zu leben, ist gewiß ein Umstand, der in der Ge¬
schichte ebenso unsern Unwillen wie unser Mitleid, rege macht. Allein wenn
uns im Gedichte dargestellt wird, wie der Dichter als armer Kavalier sich in
den Herbergen und Edelhosen bewegt, und wie ihm sein treuer Sklave heimlich
Geld und Speisen zusteckt, die er für ihn erbettelt hat, so können wir uns
eines andern Gefühls nicht erwehren, des Gefühls der Unwürdigkeit, das unser
lebendiges Interesse an dem Helden auf eine sehr bedenkliche Weise abstumpft.

Mit größerem Fleiß und tieferem Eingehen aus das innerliche Leben sind


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[0102] Vernunft widersprach. — Ein fernerer Fehler dieses Romans ist die schwache Zeichnung der bürgerlichen Gesellschaft, jener mittleren Schicht, an welcher der doppelte Fanatismus seinen Stoff, seinen Träger und später seinen Regulator findet. Ereentricitäten erträgt man nur, wenn man durch eine sichere Zeichnung dieser in der Mitte stehenden Masse an'die bleibenden Eigenschaften der mensch¬ lichen Natur erinnert wird. Walter Scott thut dies stets, weil in ihm selbst der gesunde Menschenverstand um so kräftiger war, je empfänglicher sich seine Phantasie dem Verständniß jeder Ercentricität öffnete; bei Tieck dagegen stehen in der Mitte nur jene verschwommene-n sentimentalen Personen ohne Fleisch und Blut, die der excentrischen Regung weder Stoff geben, noch ihr Wider¬ stand leisten. Es liegt in diesem Fehler zugleich ein anderer. Tieck beobachtet zuweilen sehr sein, insofern er für excentrische Züge, namentlich sür die kleinen Schwächen der menschlichen Natur ein scharfes Auge hat, aber er ist zu suljectiv in seiner Beobachtung. Er gibt sich nicht unbefangen den Gegenständen hin, sondern er sieht sie durch das Medium eines poetischen Aethers, der Farbe und Umrisse doch sehr wesentlich verändert. Die Ercentricität findet aber nur dann ihren Sinn, wenn wir zugleich die Empfindung der Regel, des normalen Zustandes der Dinge haben. Wo sich die Grille als Regel geberdet, hört mit der Ver¬ wunderung auch das Interesse auf. So ist eS ihm denn auch in seinen historischen Romanen begegnet, daß er die Gegenstände am liebsten aus der zweiten Hand schildert, d. h. daß er einen Dichter zu seinem Helden macht und sich bemüht, die Dinge durch das Organ einer ihm imponirenden Phantasie aufzufassen. So hat er in der Novelle : „der Tod des Dichters" freilich mehr äußerlich an den Schicksalen des portugiesischen Dichters Camoens die isolirte Stelle zu zeigen gesucht, welche die Dichtkunst der profanen Masse gegenüber einnimmt. Der Ton dieser No¬ velle ist einem Schäferroman von Cervantes nachgebildet, und die Handlung an sich weder spannend noch belehrend., Charakteristisch ist aber die Vorstellung, die Dichterkrone dadurch im Hellem Glanz zu zeigen, daß sie aus das Haupt eines Bettlers gesetzt wird. Daß Camoens, der beste Dichter der Portugiesen, für die Verherrlichung seines Vaterlandes einen schlechten Lohn empfing, daß er ge¬ nöthigt war, von Almosen zu leben, ist gewiß ein Umstand, der in der Ge¬ schichte ebenso unsern Unwillen wie unser Mitleid, rege macht. Allein wenn uns im Gedichte dargestellt wird, wie der Dichter als armer Kavalier sich in den Herbergen und Edelhosen bewegt, und wie ihm sein treuer Sklave heimlich Geld und Speisen zusteckt, die er für ihn erbettelt hat, so können wir uns eines andern Gefühls nicht erwehren, des Gefühls der Unwürdigkeit, das unser lebendiges Interesse an dem Helden auf eine sehr bedenkliche Weise abstumpft. Mit größerem Fleiß und tieferem Eingehen aus das innerliche Leben sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/102>, abgerufen am 01.09.2024.