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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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ziemlich scharf auseinandergehalten. Wie der blödsinnige Fanatismus eines
bigotten Priesters, das weltliche Interesse eines Ehrgeizigen, das kleinliche
Gewebe des Hasses und Neides hier vorbereitend ihr Wesen treiben, wie dann
der der menschlichen Natur verborgene Wahnsinn eine bestimmte Färbung der
Zeit annimmt, wie dann alle diese Momente ineinandergreifen, lawinenartig
fortwachsen, und zuletzt durch ihre Wucht, durch den Druck, den sie auf die
Phantasie ausüben, Sinn und Verstand eines ganzen Zeitalters mit sich fort¬
reißen, das ist mit großer Feinheit geschildert, und die Erzählung würde vor¬
trefflich sein, wenn der Dichter statt seiner sentimentalen Grundstimmung eine
kräftige historische gefunden, und wenn er dem Wahnsinn des Fanatismus statt
der leichtsinnig frivolen Geselligkeit geschichtliche Zustände gegenübergestellt hätte.
Der Dichter soll eigentlich nie bloßes Grauen in uns erregen, er soll
sittliche Leidenschaften, Zorn und Haß gegen das Abscheuliche in uns erwecken,
er soll unsre eigne Seele so frei machen von dem Dämon, den er schildert,
wie es seine eigne ist. Freilich kann man nur die Freiheit geben, die man
selbst hat, und Tieck war zu ungläubig, zu skeptisch, um nicht vor dem Glauben
in jeder Form, auch der paradoxesten, insgeheim zu zittern.

Der Cevennenkricg, in welchem der convulsionäre Fanatismus einer wil¬
den Sekte dargestellt werden soll, ist viel weniger gelungen. Ueber die Einwirkung
desselben auf den Romanhelden haben wir schon gesprochen. Die Hauptsache
ist aber, daß Tieck sein eignes Verhältniß zu jenen Convulsionen sich nicht
klar gemacht hat. Man kann jenes wunderbare Prophetenthum verschiedenartig
auslegen; man kann Betrug, Verrücktheit, einen ^geheimen Naturproceß, auch
eine Vermischung alles dreien darin finden, aber in allen Fällen muß man
sich klar darüber entscheiden, man muß über das Verhältniß der Mischung
ein bestimmtes Bewußtsein haben, wenn man es auch seinem Publicum nicht
vorrechnet. Nun geht es aber dem Dichter- grade so wie seinem Helden. Die
verschiedenen Möglichkeiten der Erklärung verwirren sich bei ihm, und er weiß
nie bestimmt, für welche Seite er sich entscheiden soll. Aberglaube und Ironie
durchkreuzen sich in beständigem Wechsel, grade wie die tausend kleinen In¬
triguen, die zur Hauptsache uicht die geringste Beziehung haben. Einzelne
Nebenfiguren der Fanatiker auf beiden Seiten sind ihm vortrefflich gelungen,
aber wo es daraus ankommt, die beiden Ertreme zu einer großen und er¬
greifenden Gestalt zusammenzufassen, wie es Walter Scott in seinem Claver-
house und Balfour so schön verstanden hat, da versiegt seine Kraft. Sein
Rebellenoberst Cavallier ist eine der traurigsten Erfindungen der Romantik, eine
Mischung von Cherub, Müllergesellen, militärischem Genie, sanftem, stillen
Wesen, Bescheidenheit und Größe, sür die kein Mensch den Leitton finden
wird. Derartige Erfindungen sind für den Idealismus der Romantiker cha¬
rakteristisch, denen als Ideal erschien, was allen Bedingungen der Natur und


ziemlich scharf auseinandergehalten. Wie der blödsinnige Fanatismus eines
bigotten Priesters, das weltliche Interesse eines Ehrgeizigen, das kleinliche
Gewebe des Hasses und Neides hier vorbereitend ihr Wesen treiben, wie dann
der der menschlichen Natur verborgene Wahnsinn eine bestimmte Färbung der
Zeit annimmt, wie dann alle diese Momente ineinandergreifen, lawinenartig
fortwachsen, und zuletzt durch ihre Wucht, durch den Druck, den sie auf die
Phantasie ausüben, Sinn und Verstand eines ganzen Zeitalters mit sich fort¬
reißen, das ist mit großer Feinheit geschildert, und die Erzählung würde vor¬
trefflich sein, wenn der Dichter statt seiner sentimentalen Grundstimmung eine
kräftige historische gefunden, und wenn er dem Wahnsinn des Fanatismus statt
der leichtsinnig frivolen Geselligkeit geschichtliche Zustände gegenübergestellt hätte.
Der Dichter soll eigentlich nie bloßes Grauen in uns erregen, er soll
sittliche Leidenschaften, Zorn und Haß gegen das Abscheuliche in uns erwecken,
er soll unsre eigne Seele so frei machen von dem Dämon, den er schildert,
wie es seine eigne ist. Freilich kann man nur die Freiheit geben, die man
selbst hat, und Tieck war zu ungläubig, zu skeptisch, um nicht vor dem Glauben
in jeder Form, auch der paradoxesten, insgeheim zu zittern.

Der Cevennenkricg, in welchem der convulsionäre Fanatismus einer wil¬
den Sekte dargestellt werden soll, ist viel weniger gelungen. Ueber die Einwirkung
desselben auf den Romanhelden haben wir schon gesprochen. Die Hauptsache
ist aber, daß Tieck sein eignes Verhältniß zu jenen Convulsionen sich nicht
klar gemacht hat. Man kann jenes wunderbare Prophetenthum verschiedenartig
auslegen; man kann Betrug, Verrücktheit, einen ^geheimen Naturproceß, auch
eine Vermischung alles dreien darin finden, aber in allen Fällen muß man
sich klar darüber entscheiden, man muß über das Verhältniß der Mischung
ein bestimmtes Bewußtsein haben, wenn man es auch seinem Publicum nicht
vorrechnet. Nun geht es aber dem Dichter- grade so wie seinem Helden. Die
verschiedenen Möglichkeiten der Erklärung verwirren sich bei ihm, und er weiß
nie bestimmt, für welche Seite er sich entscheiden soll. Aberglaube und Ironie
durchkreuzen sich in beständigem Wechsel, grade wie die tausend kleinen In¬
triguen, die zur Hauptsache uicht die geringste Beziehung haben. Einzelne
Nebenfiguren der Fanatiker auf beiden Seiten sind ihm vortrefflich gelungen,
aber wo es daraus ankommt, die beiden Ertreme zu einer großen und er¬
greifenden Gestalt zusammenzufassen, wie es Walter Scott in seinem Claver-
house und Balfour so schön verstanden hat, da versiegt seine Kraft. Sein
Rebellenoberst Cavallier ist eine der traurigsten Erfindungen der Romantik, eine
Mischung von Cherub, Müllergesellen, militärischem Genie, sanftem, stillen
Wesen, Bescheidenheit und Größe, sür die kein Mensch den Leitton finden
wird. Derartige Erfindungen sind für den Idealismus der Romantiker cha¬
rakteristisch, denen als Ideal erschien, was allen Bedingungen der Natur und


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[0101] ziemlich scharf auseinandergehalten. Wie der blödsinnige Fanatismus eines bigotten Priesters, das weltliche Interesse eines Ehrgeizigen, das kleinliche Gewebe des Hasses und Neides hier vorbereitend ihr Wesen treiben, wie dann der der menschlichen Natur verborgene Wahnsinn eine bestimmte Färbung der Zeit annimmt, wie dann alle diese Momente ineinandergreifen, lawinenartig fortwachsen, und zuletzt durch ihre Wucht, durch den Druck, den sie auf die Phantasie ausüben, Sinn und Verstand eines ganzen Zeitalters mit sich fort¬ reißen, das ist mit großer Feinheit geschildert, und die Erzählung würde vor¬ trefflich sein, wenn der Dichter statt seiner sentimentalen Grundstimmung eine kräftige historische gefunden, und wenn er dem Wahnsinn des Fanatismus statt der leichtsinnig frivolen Geselligkeit geschichtliche Zustände gegenübergestellt hätte. Der Dichter soll eigentlich nie bloßes Grauen in uns erregen, er soll sittliche Leidenschaften, Zorn und Haß gegen das Abscheuliche in uns erwecken, er soll unsre eigne Seele so frei machen von dem Dämon, den er schildert, wie es seine eigne ist. Freilich kann man nur die Freiheit geben, die man selbst hat, und Tieck war zu ungläubig, zu skeptisch, um nicht vor dem Glauben in jeder Form, auch der paradoxesten, insgeheim zu zittern. Der Cevennenkricg, in welchem der convulsionäre Fanatismus einer wil¬ den Sekte dargestellt werden soll, ist viel weniger gelungen. Ueber die Einwirkung desselben auf den Romanhelden haben wir schon gesprochen. Die Hauptsache ist aber, daß Tieck sein eignes Verhältniß zu jenen Convulsionen sich nicht klar gemacht hat. Man kann jenes wunderbare Prophetenthum verschiedenartig auslegen; man kann Betrug, Verrücktheit, einen ^geheimen Naturproceß, auch eine Vermischung alles dreien darin finden, aber in allen Fällen muß man sich klar darüber entscheiden, man muß über das Verhältniß der Mischung ein bestimmtes Bewußtsein haben, wenn man es auch seinem Publicum nicht vorrechnet. Nun geht es aber dem Dichter- grade so wie seinem Helden. Die verschiedenen Möglichkeiten der Erklärung verwirren sich bei ihm, und er weiß nie bestimmt, für welche Seite er sich entscheiden soll. Aberglaube und Ironie durchkreuzen sich in beständigem Wechsel, grade wie die tausend kleinen In¬ triguen, die zur Hauptsache uicht die geringste Beziehung haben. Einzelne Nebenfiguren der Fanatiker auf beiden Seiten sind ihm vortrefflich gelungen, aber wo es daraus ankommt, die beiden Ertreme zu einer großen und er¬ greifenden Gestalt zusammenzufassen, wie es Walter Scott in seinem Claver- house und Balfour so schön verstanden hat, da versiegt seine Kraft. Sein Rebellenoberst Cavallier ist eine der traurigsten Erfindungen der Romantik, eine Mischung von Cherub, Müllergesellen, militärischem Genie, sanftem, stillen Wesen, Bescheidenheit und Größe, sür die kein Mensch den Leitton finden wird. Derartige Erfindungen sind für den Idealismus der Romantiker cha¬ rakteristisch, denen als Ideal erschien, was allen Bedingungen der Natur und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/101>, abgerufen am 01.09.2024.