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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Die Flucht nach Egypten, biblische Legende für Tenorsolo, Chor "ut
Orchester.
Harold in Italien, Symphonie mit obligater Bratsche:
1. Harold im Gebirge, Scenen des Trübsinns und der Freude;
2. Marsch der Pilger, das Abendgebet singend;
3. Serenade eines Bergbewohners in den Abruzzen.
Der junge Bre tagner Schäfer, Romanze für Tenor.
Die Fee Mad, Scherzo aus der Symphonie Romeo und Julie.
Scenen ans Faust, Recitativ, Arie des Mephistopheles, Chor und Tanz
der Sylphen.
Ouvertüre zum römischen Carneval.

Fürwahr, die gewöhnlichen Cvncertprogramme nach der Schablone pflegen
durch Ueberhäufung mit disparaten Musikstücken unserer ästhetischen Bildung kein
günstiges Zeugniß auszustellen, aber wie unschuldig sind sie gegen dieses Aller¬
lei! Es ist unbegreiflich, wie ein Mann von Geschmack diese verschiedenartigen
Kompositionen, zum Theil nur Bruchstücke , absichtlich in Contrast zueinander ge¬
setzt, dem Publicum vorlegen mochte, wie ein Tabuletkrämer seine bunten Proben
auslegt, um doch von jedem ein Stückchen zu zeigen; unbegreiflich, wie er dem
Publicum zumuthen konnte, von dieser starkgewürzten Waare soviel auf einmal
und durcheinander zu sich zu nehmen, und erwarten, daß es für den Genuß
empfänglich und zum Urtheil fähig bleiben könne.

Die Flucht nach Aegypten war allerdings wohl gewählt, um das Publicum zu
überrasche", das in jeder Beziehung das Extravaganteste erwartete und das Aller-
gewöhnlichste zu hören bekam. Diese -Enttäuschung wirkte günstig auf die Stim¬
mung; was man bei einem Anfänger höchstens mit Geduld aufgenommen "ud
vielleicht langweilig gefunden hätte, entsprach der Vorstellung, die man sich von
Berlioz's Musik gemacht hatte, so gar nicht, daß es dadurch den Reiz von' etwas
Außerordentlichen bekam, den es an sich nicht hatte. Es macht keinen Lärm und
ist einfach, aber diese Einfachheit ist keine natürliche, sondern eine reflectirte;
wäre sie ans einer innerlich einfachen Stimmung hervorgegangen, hätte der harte
Uebergang, der am Ende jedes Verses ganz uumotivirt sich hineindrängt, wol
ebensowenig Platz gefunden als das kokette Spielen mit den Schalmeien, das
durch seine Al'stchtlichkeit die Stimmung stört, ohne eine charakteristische Färbung
hervorzubringen.

Von der Ouvertüre ist schon gesprochen, der Chor besteht aus einem Lied
von drei Versen, die nur in der Begleitung verschieden gehalten sind. Diese
Behandlung ist hier ganz angemessen, allein bemerkenswerth ist, daß Berlioz in
seinen Gesangscomposttionen, soweit sie eine geschlossene Form haben, über die
einfachste und kleinste des Liedes nicht hinauskommt; wenn er diese verlaßt, er¬
scheinen nur Rhapsodien lose aneinander gereiheter Einzelheiten, die sowenig


Grcnzvote". IV. 18ö3. 62
Die Flucht nach Egypten, biblische Legende für Tenorsolo, Chor »ut
Orchester.
Harold in Italien, Symphonie mit obligater Bratsche:
1. Harold im Gebirge, Scenen des Trübsinns und der Freude;
2. Marsch der Pilger, das Abendgebet singend;
3. Serenade eines Bergbewohners in den Abruzzen.
Der junge Bre tagner Schäfer, Romanze für Tenor.
Die Fee Mad, Scherzo aus der Symphonie Romeo und Julie.
Scenen ans Faust, Recitativ, Arie des Mephistopheles, Chor und Tanz
der Sylphen.
Ouvertüre zum römischen Carneval.

Fürwahr, die gewöhnlichen Cvncertprogramme nach der Schablone pflegen
durch Ueberhäufung mit disparaten Musikstücken unserer ästhetischen Bildung kein
günstiges Zeugniß auszustellen, aber wie unschuldig sind sie gegen dieses Aller¬
lei! Es ist unbegreiflich, wie ein Mann von Geschmack diese verschiedenartigen
Kompositionen, zum Theil nur Bruchstücke , absichtlich in Contrast zueinander ge¬
setzt, dem Publicum vorlegen mochte, wie ein Tabuletkrämer seine bunten Proben
auslegt, um doch von jedem ein Stückchen zu zeigen; unbegreiflich, wie er dem
Publicum zumuthen konnte, von dieser starkgewürzten Waare soviel auf einmal
und durcheinander zu sich zu nehmen, und erwarten, daß es für den Genuß
empfänglich und zum Urtheil fähig bleiben könne.

Die Flucht nach Aegypten war allerdings wohl gewählt, um das Publicum zu
überrasche», das in jeder Beziehung das Extravaganteste erwartete und das Aller-
gewöhnlichste zu hören bekam. Diese -Enttäuschung wirkte günstig auf die Stim¬
mung; was man bei einem Anfänger höchstens mit Geduld aufgenommen »ud
vielleicht langweilig gefunden hätte, entsprach der Vorstellung, die man sich von
Berlioz's Musik gemacht hatte, so gar nicht, daß es dadurch den Reiz von' etwas
Außerordentlichen bekam, den es an sich nicht hatte. Es macht keinen Lärm und
ist einfach, aber diese Einfachheit ist keine natürliche, sondern eine reflectirte;
wäre sie ans einer innerlich einfachen Stimmung hervorgegangen, hätte der harte
Uebergang, der am Ende jedes Verses ganz uumotivirt sich hineindrängt, wol
ebensowenig Platz gefunden als das kokette Spielen mit den Schalmeien, das
durch seine Al'stchtlichkeit die Stimmung stört, ohne eine charakteristische Färbung
hervorzubringen.

Von der Ouvertüre ist schon gesprochen, der Chor besteht aus einem Lied
von drei Versen, die nur in der Begleitung verschieden gehalten sind. Diese
Behandlung ist hier ganz angemessen, allein bemerkenswerth ist, daß Berlioz in
seinen Gesangscomposttionen, soweit sie eine geschlossene Form haben, über die
einfachste und kleinste des Liedes nicht hinauskommt; wenn er diese verlaßt, er¬
scheinen nur Rhapsodien lose aneinander gereiheter Einzelheiten, die sowenig


Grcnzvote». IV. 18ö3. 62
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[0497] Die Flucht nach Egypten, biblische Legende für Tenorsolo, Chor »ut Orchester. Harold in Italien, Symphonie mit obligater Bratsche: 1. Harold im Gebirge, Scenen des Trübsinns und der Freude; 2. Marsch der Pilger, das Abendgebet singend; 3. Serenade eines Bergbewohners in den Abruzzen. Der junge Bre tagner Schäfer, Romanze für Tenor. Die Fee Mad, Scherzo aus der Symphonie Romeo und Julie. Scenen ans Faust, Recitativ, Arie des Mephistopheles, Chor und Tanz der Sylphen. Ouvertüre zum römischen Carneval. Fürwahr, die gewöhnlichen Cvncertprogramme nach der Schablone pflegen durch Ueberhäufung mit disparaten Musikstücken unserer ästhetischen Bildung kein günstiges Zeugniß auszustellen, aber wie unschuldig sind sie gegen dieses Aller¬ lei! Es ist unbegreiflich, wie ein Mann von Geschmack diese verschiedenartigen Kompositionen, zum Theil nur Bruchstücke , absichtlich in Contrast zueinander ge¬ setzt, dem Publicum vorlegen mochte, wie ein Tabuletkrämer seine bunten Proben auslegt, um doch von jedem ein Stückchen zu zeigen; unbegreiflich, wie er dem Publicum zumuthen konnte, von dieser starkgewürzten Waare soviel auf einmal und durcheinander zu sich zu nehmen, und erwarten, daß es für den Genuß empfänglich und zum Urtheil fähig bleiben könne. Die Flucht nach Aegypten war allerdings wohl gewählt, um das Publicum zu überrasche», das in jeder Beziehung das Extravaganteste erwartete und das Aller- gewöhnlichste zu hören bekam. Diese -Enttäuschung wirkte günstig auf die Stim¬ mung; was man bei einem Anfänger höchstens mit Geduld aufgenommen »ud vielleicht langweilig gefunden hätte, entsprach der Vorstellung, die man sich von Berlioz's Musik gemacht hatte, so gar nicht, daß es dadurch den Reiz von' etwas Außerordentlichen bekam, den es an sich nicht hatte. Es macht keinen Lärm und ist einfach, aber diese Einfachheit ist keine natürliche, sondern eine reflectirte; wäre sie ans einer innerlich einfachen Stimmung hervorgegangen, hätte der harte Uebergang, der am Ende jedes Verses ganz uumotivirt sich hineindrängt, wol ebensowenig Platz gefunden als das kokette Spielen mit den Schalmeien, das durch seine Al'stchtlichkeit die Stimmung stört, ohne eine charakteristische Färbung hervorzubringen. Von der Ouvertüre ist schon gesprochen, der Chor besteht aus einem Lied von drei Versen, die nur in der Begleitung verschieden gehalten sind. Diese Behandlung ist hier ganz angemessen, allein bemerkenswerth ist, daß Berlioz in seinen Gesangscomposttionen, soweit sie eine geschlossene Form haben, über die einfachste und kleinste des Liedes nicht hinauskommt; wenn er diese verlaßt, er¬ scheinen nur Rhapsodien lose aneinander gereiheter Einzelheiten, die sowenig Grcnzvote». IV. 18ö3. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/497>, abgerufen am 06.02.2025.