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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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<z. B. Bd. 2 S. -I3S, 1i7, 208), mehr dem Theologen als dem Geschichtschreiber
ansteht, und wenn überall, wo von der Kirche die Rede ist, der kritische Anstand
aufhört (z. B. S. 476--77), so macht doch das ganze Buch einen sehr wohl¬
thuenden Eindruck; denn wenigstens bei den Hauptsachen des mittelalterlichen Lebens
finden wir wirkliche Liebe und Achtung und auch wirkliches Verständniß. Die
politische Staatsgeschichte, die sonst gewöhnlich in den Vordergrund tritt, wird
ganz nebenbei behandelt, dagegen die großen Phasen der Culturentwickelung in dem
Städte- und Ritterwesen, in den Eidgenossenschaften u. s. w. in zweckmäßigen
und geistvollen Uebersichten zu einer lebendigen Anschauung gebracht.

Allein mit dem Beginn der Reformation hört diese Einheit im Gemüth und
im Gedanken des Schriftstellers auf. 'Wenn Leo sein Princip consequent ver¬
folgen wollte, so mußte er ganz wie sein Vorbild, Friedrich Schlegel, Katholik
werden. Denn wer die Continuität der göttlichen Offenbarung und das uner¬
schütterliche Princip der Autorität gewahrt wissen will, muß sich der erscheinenden
Kirche fügen. Allein Leo ist Protestant/ und sein Glaube ist wenigstens nicht ganz
ohne Wurzel" in seinem Gemüthe. So streitet denn bei ihm beständig die Re¬
flexion mit der Empfindung, und er nimmt zu ganz sonderbaren Wendungen seine
Zuflucht, um das eine vor dem andern zu rechtfertigen. Er hebt sehr scharf die
Macchiavellistische Gesinnung der Zeit Leo X.. hervor, gegen welchen die Refor¬
mation wie eine Wiedergeburt des Christenthums erscheint. Er betont sehr stark
die dogmatischen Gegensätze, die Lehre von der Seligkeit durch den Glauben im
Gegensatz gegen die Werke. Das alles ist vollkommen' richtig und wird von den
gewöhnlichen weltlichen Geschichtschreibern der Reformation allerdings zu sehr
vernachlässigt, aber es ist doch nicht alles, nicht einmal die Hauptsache. Gegen
die andere Seite der Reformation, nämlich gegen die.Aufnahme der weltlichen,
bürgerlichen Interessen und der Natur in. den Kreis der Idealwelt, während
sie in der alten Kirche draußen geblieben waren, sowie gegen das freiheitliche
Moment der Reformation verhält sich Leo sehr zweifelhaft. Er kann sich nicht
entschließen, offen dagegen aufzutreten, er läßt seine Mißbilligung nur durchblicken.
Zuletzt findet er einen ganz eigenthümlichen Ausweg, der aber mit seinem son¬
stigen geschichtlichen Princip nicht übel übereinstimmt. Es kommt ihm nämlich
aus das Festhalten strenger Normen an, welche nicht dem subjectiven Bedürfniß
des Glaubens, sondern der allgemeinen Erziehung der Massen dienen. Er hält
jede absichtliche Neutralisation der Gegensätze für eine Sünde gegen den mensch¬
lichen Geist. So verlangt er denn für jede Kirche ein individuell geschlossenes
Leben und gesteht der katholischen Kirche eine gewisse Suprematie über die andern
zu, weil sie das Princip der Autorität energischer und cousequenter zu vertreten
im Stande ist. Der wahre Protestant soll nach seiner Ansicht ans eigenem
Interesse für das Gedeihen der katholischen Kirche besorgt sein und gegen alle
Ketzereien innerhalb derselben sich ebenso entschieden erheben, wie der rechtgläubigste


<z. B. Bd. 2 S. -I3S, 1i7, 208), mehr dem Theologen als dem Geschichtschreiber
ansteht, und wenn überall, wo von der Kirche die Rede ist, der kritische Anstand
aufhört (z. B. S. 476—77), so macht doch das ganze Buch einen sehr wohl¬
thuenden Eindruck; denn wenigstens bei den Hauptsachen des mittelalterlichen Lebens
finden wir wirkliche Liebe und Achtung und auch wirkliches Verständniß. Die
politische Staatsgeschichte, die sonst gewöhnlich in den Vordergrund tritt, wird
ganz nebenbei behandelt, dagegen die großen Phasen der Culturentwickelung in dem
Städte- und Ritterwesen, in den Eidgenossenschaften u. s. w. in zweckmäßigen
und geistvollen Uebersichten zu einer lebendigen Anschauung gebracht.

Allein mit dem Beginn der Reformation hört diese Einheit im Gemüth und
im Gedanken des Schriftstellers auf. 'Wenn Leo sein Princip consequent ver¬
folgen wollte, so mußte er ganz wie sein Vorbild, Friedrich Schlegel, Katholik
werden. Denn wer die Continuität der göttlichen Offenbarung und das uner¬
schütterliche Princip der Autorität gewahrt wissen will, muß sich der erscheinenden
Kirche fügen. Allein Leo ist Protestant/ und sein Glaube ist wenigstens nicht ganz
ohne Wurzel» in seinem Gemüthe. So streitet denn bei ihm beständig die Re¬
flexion mit der Empfindung, und er nimmt zu ganz sonderbaren Wendungen seine
Zuflucht, um das eine vor dem andern zu rechtfertigen. Er hebt sehr scharf die
Macchiavellistische Gesinnung der Zeit Leo X.. hervor, gegen welchen die Refor¬
mation wie eine Wiedergeburt des Christenthums erscheint. Er betont sehr stark
die dogmatischen Gegensätze, die Lehre von der Seligkeit durch den Glauben im
Gegensatz gegen die Werke. Das alles ist vollkommen' richtig und wird von den
gewöhnlichen weltlichen Geschichtschreibern der Reformation allerdings zu sehr
vernachlässigt, aber es ist doch nicht alles, nicht einmal die Hauptsache. Gegen
die andere Seite der Reformation, nämlich gegen die.Aufnahme der weltlichen,
bürgerlichen Interessen und der Natur in. den Kreis der Idealwelt, während
sie in der alten Kirche draußen geblieben waren, sowie gegen das freiheitliche
Moment der Reformation verhält sich Leo sehr zweifelhaft. Er kann sich nicht
entschließen, offen dagegen aufzutreten, er läßt seine Mißbilligung nur durchblicken.
Zuletzt findet er einen ganz eigenthümlichen Ausweg, der aber mit seinem son¬
stigen geschichtlichen Princip nicht übel übereinstimmt. Es kommt ihm nämlich
aus das Festhalten strenger Normen an, welche nicht dem subjectiven Bedürfniß
des Glaubens, sondern der allgemeinen Erziehung der Massen dienen. Er hält
jede absichtliche Neutralisation der Gegensätze für eine Sünde gegen den mensch¬
lichen Geist. So verlangt er denn für jede Kirche ein individuell geschlossenes
Leben und gesteht der katholischen Kirche eine gewisse Suprematie über die andern
zu, weil sie das Princip der Autorität energischer und cousequenter zu vertreten
im Stande ist. Der wahre Protestant soll nach seiner Ansicht ans eigenem
Interesse für das Gedeihen der katholischen Kirche besorgt sein und gegen alle
Ketzereien innerhalb derselben sich ebenso entschieden erheben, wie der rechtgläubigste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/421>, abgerufen am 06.02.2025.