Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Punkt für diesen Zweck gewesen; aber die Sache konnte kein rechtes Gedeihen haben,
da man sie in derselben verkehrten und kindlichen Weise angegriffen hatte, wie die
Rnthenen, Südslawen, selbst die Czechen. Man wollte geschwind eine nationale
Bildung, Literatur und Wissenschaft schaffen, und ließ daher in aller Eile von
dem polnischen, seit neun Jahren im Lande ansässigen Dr. B. Handbücher der
Naturwissenschaften, von andern Professoren Compendien ihrer Fachwissenschaften
anfertigen, d. h. größtentheils übersetzen. Jetzt konnte man allen Studirenden
die Wissenschaft in der Muttersprache vortragen, die Nation und das Vaterland
waren gerettet. Umsonst stellte man den Leitern des Unterrichts das Fehlerhafte
dieses Systems dar, wies auf die Völker Europas, die sich nnr dadurch national
entwickelten, daß zuerst fremde Cultursprachen, die lateinische und griechische, bei
den Czechen die deutsche, Unterrichts- und Gelehrtensprache wurde, worauf aus
den vielen Tausenden gründlich gebildeter Männer, endlich Schriftsteller auftraten,
die vom Drange zur Mittheilung getrieben, ihre Gedankenschätze und poetischen
Erfindungen dem Volke mitzutheilen strebten und dadurch zur Cultivirung der
Muttersprache gedrängt wurden; umsonst warnte der östreichische Ministerial-
consnl, v. Laurin, der früher in Aegypten gewesen war und ein ähnliches Ex¬
periment unter Mehemed Ali mit der unendlich hoher stehenden arabischen Sprache
fehlschlagen gesehen hatte: man wollte einmal durchaus eine nationale Cultur.
Jedenfalls war ein erst wenige Jahre im Lande wohnender Fremder der wichtigste
Repräsentant dieser nationalen Treibhansliteratur.

Diese Nationaleitelkeit ist fast nur beim Adel zu finden; auffallend ist übrigens
bei diesem, daß er, besonders durch Haar und Auge, stark an den Zigeuner erinnert.
Die Reinheit der Bojarcufamilicn wird sehr in Zweifel gezogen.

Beim Bauern hat sich durch die Türkenkriege weit mehr das Bewußtsein
eines religiösen als nationalen Gegensatzes herausgebildet. Er ist ebenso wie der
Bojar sehr fromm und erfüllt mit kleinlicher Pünktlichkeit alle Vorschriften der Kirche;
aber von einem Zusammenhang der Moral mit der Religion haben die frommen
Leute keine Ahnung. "Was habt ihr mit der gebratenen Gans gemacht?" wur¬
den vor einigen Jahren zwei vor Gericht stehende walachische Bauern gefragt,
die einen Reisenden erschlagen und ausgeplündert hatten und vom Richter über
die Verwendung der geraubten Gegenstände verhört wurden. "Die haben wir
weggeworfen."

"Warum?"

"Walls grade Freitag war, wir durften sie also nicht essen und konnten uns
auch uicht damit schleppen."

Der Walache nimmt für den griechischen Rechtgläubigen allein das Prädicat
Christ in Anspruch, alle andern Religiousgeuossen sind ihm Heiden. Doch ist
unbeschadet der Rechtgläubigkeit ein großer Fortschritt seit wenigen Jahrzehnten
geschehen. Ebenso wie das früher von Räuberbanden wimmelnde, von Raub und


Punkt für diesen Zweck gewesen; aber die Sache konnte kein rechtes Gedeihen haben,
da man sie in derselben verkehrten und kindlichen Weise angegriffen hatte, wie die
Rnthenen, Südslawen, selbst die Czechen. Man wollte geschwind eine nationale
Bildung, Literatur und Wissenschaft schaffen, und ließ daher in aller Eile von
dem polnischen, seit neun Jahren im Lande ansässigen Dr. B. Handbücher der
Naturwissenschaften, von andern Professoren Compendien ihrer Fachwissenschaften
anfertigen, d. h. größtentheils übersetzen. Jetzt konnte man allen Studirenden
die Wissenschaft in der Muttersprache vortragen, die Nation und das Vaterland
waren gerettet. Umsonst stellte man den Leitern des Unterrichts das Fehlerhafte
dieses Systems dar, wies auf die Völker Europas, die sich nnr dadurch national
entwickelten, daß zuerst fremde Cultursprachen, die lateinische und griechische, bei
den Czechen die deutsche, Unterrichts- und Gelehrtensprache wurde, worauf aus
den vielen Tausenden gründlich gebildeter Männer, endlich Schriftsteller auftraten,
die vom Drange zur Mittheilung getrieben, ihre Gedankenschätze und poetischen
Erfindungen dem Volke mitzutheilen strebten und dadurch zur Cultivirung der
Muttersprache gedrängt wurden; umsonst warnte der östreichische Ministerial-
consnl, v. Laurin, der früher in Aegypten gewesen war und ein ähnliches Ex¬
periment unter Mehemed Ali mit der unendlich hoher stehenden arabischen Sprache
fehlschlagen gesehen hatte: man wollte einmal durchaus eine nationale Cultur.
Jedenfalls war ein erst wenige Jahre im Lande wohnender Fremder der wichtigste
Repräsentant dieser nationalen Treibhansliteratur.

Diese Nationaleitelkeit ist fast nur beim Adel zu finden; auffallend ist übrigens
bei diesem, daß er, besonders durch Haar und Auge, stark an den Zigeuner erinnert.
Die Reinheit der Bojarcufamilicn wird sehr in Zweifel gezogen.

Beim Bauern hat sich durch die Türkenkriege weit mehr das Bewußtsein
eines religiösen als nationalen Gegensatzes herausgebildet. Er ist ebenso wie der
Bojar sehr fromm und erfüllt mit kleinlicher Pünktlichkeit alle Vorschriften der Kirche;
aber von einem Zusammenhang der Moral mit der Religion haben die frommen
Leute keine Ahnung. „Was habt ihr mit der gebratenen Gans gemacht?" wur¬
den vor einigen Jahren zwei vor Gericht stehende walachische Bauern gefragt,
die einen Reisenden erschlagen und ausgeplündert hatten und vom Richter über
die Verwendung der geraubten Gegenstände verhört wurden. „Die haben wir
weggeworfen."

„Warum?"

„Walls grade Freitag war, wir durften sie also nicht essen und konnten uns
auch uicht damit schleppen."

Der Walache nimmt für den griechischen Rechtgläubigen allein das Prädicat
Christ in Anspruch, alle andern Religiousgeuossen sind ihm Heiden. Doch ist
unbeschadet der Rechtgläubigkeit ein großer Fortschritt seit wenigen Jahrzehnten
geschehen. Ebenso wie das früher von Räuberbanden wimmelnde, von Raub und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0336" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97041"/>
          <p xml:id="ID_1006" prev="#ID_1005"> Punkt für diesen Zweck gewesen; aber die Sache konnte kein rechtes Gedeihen haben,<lb/>
da man sie in derselben verkehrten und kindlichen Weise angegriffen hatte, wie die<lb/>
Rnthenen, Südslawen, selbst die Czechen. Man wollte geschwind eine nationale<lb/>
Bildung, Literatur und Wissenschaft schaffen, und ließ daher in aller Eile von<lb/>
dem polnischen, seit neun Jahren im Lande ansässigen Dr. B. Handbücher der<lb/>
Naturwissenschaften, von andern Professoren Compendien ihrer Fachwissenschaften<lb/>
anfertigen, d. h. größtentheils übersetzen. Jetzt konnte man allen Studirenden<lb/>
die Wissenschaft in der Muttersprache vortragen, die Nation und das Vaterland<lb/>
waren gerettet. Umsonst stellte man den Leitern des Unterrichts das Fehlerhafte<lb/>
dieses Systems dar, wies auf die Völker Europas, die sich nnr dadurch national<lb/>
entwickelten, daß zuerst fremde Cultursprachen, die lateinische und griechische, bei<lb/>
den Czechen die deutsche, Unterrichts- und Gelehrtensprache wurde, worauf aus<lb/>
den vielen Tausenden gründlich gebildeter Männer, endlich Schriftsteller auftraten,<lb/>
die vom Drange zur Mittheilung getrieben, ihre Gedankenschätze und poetischen<lb/>
Erfindungen dem Volke mitzutheilen strebten und dadurch zur Cultivirung der<lb/>
Muttersprache gedrängt wurden; umsonst warnte der östreichische Ministerial-<lb/>
consnl, v. Laurin, der früher in Aegypten gewesen war und ein ähnliches Ex¬<lb/>
periment unter Mehemed Ali mit der unendlich hoher stehenden arabischen Sprache<lb/>
fehlschlagen gesehen hatte: man wollte einmal durchaus eine nationale Cultur.<lb/>
Jedenfalls war ein erst wenige Jahre im Lande wohnender Fremder der wichtigste<lb/>
Repräsentant dieser nationalen Treibhansliteratur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1007"> Diese Nationaleitelkeit ist fast nur beim Adel zu finden; auffallend ist übrigens<lb/>
bei diesem, daß er, besonders durch Haar und Auge, stark an den Zigeuner erinnert.<lb/>
Die Reinheit der Bojarcufamilicn wird sehr in Zweifel gezogen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1008"> Beim Bauern hat sich durch die Türkenkriege weit mehr das Bewußtsein<lb/>
eines religiösen als nationalen Gegensatzes herausgebildet. Er ist ebenso wie der<lb/>
Bojar sehr fromm und erfüllt mit kleinlicher Pünktlichkeit alle Vorschriften der Kirche;<lb/>
aber von einem Zusammenhang der Moral mit der Religion haben die frommen<lb/>
Leute keine Ahnung. &#x201E;Was habt ihr mit der gebratenen Gans gemacht?" wur¬<lb/>
den vor einigen Jahren zwei vor Gericht stehende walachische Bauern gefragt,<lb/>
die einen Reisenden erschlagen und ausgeplündert hatten und vom Richter über<lb/>
die Verwendung der geraubten Gegenstände verhört wurden. &#x201E;Die haben wir<lb/>
weggeworfen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1009"> &#x201E;Warum?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1010"> &#x201E;Walls grade Freitag war, wir durften sie also nicht essen und konnten uns<lb/>
auch uicht damit schleppen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1011" next="#ID_1012"> Der Walache nimmt für den griechischen Rechtgläubigen allein das Prädicat<lb/>
Christ in Anspruch, alle andern Religiousgeuossen sind ihm Heiden. Doch ist<lb/>
unbeschadet der Rechtgläubigkeit ein großer Fortschritt seit wenigen Jahrzehnten<lb/>
geschehen.  Ebenso wie das früher von Räuberbanden wimmelnde, von Raub und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0336] Punkt für diesen Zweck gewesen; aber die Sache konnte kein rechtes Gedeihen haben, da man sie in derselben verkehrten und kindlichen Weise angegriffen hatte, wie die Rnthenen, Südslawen, selbst die Czechen. Man wollte geschwind eine nationale Bildung, Literatur und Wissenschaft schaffen, und ließ daher in aller Eile von dem polnischen, seit neun Jahren im Lande ansässigen Dr. B. Handbücher der Naturwissenschaften, von andern Professoren Compendien ihrer Fachwissenschaften anfertigen, d. h. größtentheils übersetzen. Jetzt konnte man allen Studirenden die Wissenschaft in der Muttersprache vortragen, die Nation und das Vaterland waren gerettet. Umsonst stellte man den Leitern des Unterrichts das Fehlerhafte dieses Systems dar, wies auf die Völker Europas, die sich nnr dadurch national entwickelten, daß zuerst fremde Cultursprachen, die lateinische und griechische, bei den Czechen die deutsche, Unterrichts- und Gelehrtensprache wurde, worauf aus den vielen Tausenden gründlich gebildeter Männer, endlich Schriftsteller auftraten, die vom Drange zur Mittheilung getrieben, ihre Gedankenschätze und poetischen Erfindungen dem Volke mitzutheilen strebten und dadurch zur Cultivirung der Muttersprache gedrängt wurden; umsonst warnte der östreichische Ministerial- consnl, v. Laurin, der früher in Aegypten gewesen war und ein ähnliches Ex¬ periment unter Mehemed Ali mit der unendlich hoher stehenden arabischen Sprache fehlschlagen gesehen hatte: man wollte einmal durchaus eine nationale Cultur. Jedenfalls war ein erst wenige Jahre im Lande wohnender Fremder der wichtigste Repräsentant dieser nationalen Treibhansliteratur. Diese Nationaleitelkeit ist fast nur beim Adel zu finden; auffallend ist übrigens bei diesem, daß er, besonders durch Haar und Auge, stark an den Zigeuner erinnert. Die Reinheit der Bojarcufamilicn wird sehr in Zweifel gezogen. Beim Bauern hat sich durch die Türkenkriege weit mehr das Bewußtsein eines religiösen als nationalen Gegensatzes herausgebildet. Er ist ebenso wie der Bojar sehr fromm und erfüllt mit kleinlicher Pünktlichkeit alle Vorschriften der Kirche; aber von einem Zusammenhang der Moral mit der Religion haben die frommen Leute keine Ahnung. „Was habt ihr mit der gebratenen Gans gemacht?" wur¬ den vor einigen Jahren zwei vor Gericht stehende walachische Bauern gefragt, die einen Reisenden erschlagen und ausgeplündert hatten und vom Richter über die Verwendung der geraubten Gegenstände verhört wurden. „Die haben wir weggeworfen." „Warum?" „Walls grade Freitag war, wir durften sie also nicht essen und konnten uns auch uicht damit schleppen." Der Walache nimmt für den griechischen Rechtgläubigen allein das Prädicat Christ in Anspruch, alle andern Religiousgeuossen sind ihm Heiden. Doch ist unbeschadet der Rechtgläubigkeit ein großer Fortschritt seit wenigen Jahrzehnten geschehen. Ebenso wie das früher von Räuberbanden wimmelnde, von Raub und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/336
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/336>, abgerufen am 06.02.2025.