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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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oder Traum aufgelöst werden, daß das göttliche Kreuz sich ihrer erbarmt, zu
welchem sie immer ein unbedingtes Vertrauen gehabt haben. Auch dtese wunder¬
bare Lösung ist ihnen zwar nicht dnrch ein Orakel, aber durch eine ganze Reihe
sinnlicher Symbole prädestinirt. Die Hauptsache des Lebens ist, vor dem Tode
die letzte Beichte abzulegen, um die Vergebung der Sünden "ut damit die ewige
Seligkeit zu erlangen. Gegen diese gehalten ist der ganze übrige Inhalt des
Lebens gleichgiltig. Der Held des Stückes stirbt ohne Beichte und würde daher
zu den Verworfenen gehören; aber das Kreuz thut ein Wunder, er wird von den
Todten wieder aufgeweckt, um seine Beichte abzulegen, und geht darauf in den
Himmel ein. -- Das ist freilich ein sittliches Princip, gegen das uns die Schicksals¬
idee im "König Oedipus" noch sehr moralisch vorkommt.

Zwar sind diese poetischen Anschauungen in ihrer ganzen absurden Consequenz
nur von einem Theile der romantischen Schule angenommen worden; allein sie
haben auch auf unsere größeren Dichter mittelbar einen sehr bedeutenden Einfluß
ausgeübt. Es fiel ihnen nicht ein, die heidnische oder christliche Prädestinations¬
lehre in ihrer vollen Reinheit aufs Theater zu bringen, aber sie entnahmen daraus
jeues Moment des Dämonischen, des Jncommcnsurabeln, das in den Lauf der
natürlichen menschlichen Entwickelung eintrat, und wodurch sie, was nicht zu leugnen
ist, sehr große poetische Wirkungen hervorbrachten.

Von Goethe gilt dies weniger als von Schiller. Am meisten werden wir
in seinen "Wahlverwandtschaften" an die Schicksalsidee erinnert, die sich bei ihm
zu einem gewissen Natursatalismus gestaltet. Wir müssen aber aufrichtig gestehen,
daß wir diesen Fatalismus mehr in der äußern Einkleidung finden, als in der
wirklichen Darstellung. Der Dichter gibt uns soviel symbolische Hindeutungen
auf das Naturgesetz, und der Schluß eröffnet uns den Blick in eine so mystische
Tiefe, daß wir dadurch verwirrt werden. Aber die eigentliche Handlung ist doch,
wie überall bei Goethe in seiner bessern Zeit, aus der Natur der Charaktere
hergeleitet. Goethe ist zu genau und sorfältig im Motiviren, um sich einem
idealen, aus der Individualität heraustretenden Princip hinzugeben; in spätern
Zeiten, wo er durchaus symbolisch dichtete, hörte mit der pragmatischen Motivirung
auch aller innere Zusammenhang ans. Von seinen Dramen wissen wir nur eins
zu nennen, das in das Gebiet der Schicksalstragödie fällt, "die natürliche Tochter".
Hier thürmt sich ein finsteres, unbegreifliches Verhängnis dessen willenlose Träger
die sämmtlichen einzelnen Menschen zu sein scheinen, am Horizont eines ganzen
Volks auf und scheint seinen Hauptschlag ans eine schöne und unschuldige Indi¬
vidualität entladen zu wollen. Wäre das alles, wie sonst bei Goethe gewöhnlich,
in bestimmter concreter Individualisirung durchgeführt, so daß wir Ursache und
Wirkung überall geuau verfolgen könnten, so würden wir auch hier von jener
Schicksalsidee nichts empfinden; aber aus den Individualitäten sind Typen ge¬
worden, und die bestimmenden Motive können wir höchstens errathen, ihr Grund


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oder Traum aufgelöst werden, daß das göttliche Kreuz sich ihrer erbarmt, zu
welchem sie immer ein unbedingtes Vertrauen gehabt haben. Auch dtese wunder¬
bare Lösung ist ihnen zwar nicht dnrch ein Orakel, aber durch eine ganze Reihe
sinnlicher Symbole prädestinirt. Die Hauptsache des Lebens ist, vor dem Tode
die letzte Beichte abzulegen, um die Vergebung der Sünden »ut damit die ewige
Seligkeit zu erlangen. Gegen diese gehalten ist der ganze übrige Inhalt des
Lebens gleichgiltig. Der Held des Stückes stirbt ohne Beichte und würde daher
zu den Verworfenen gehören; aber das Kreuz thut ein Wunder, er wird von den
Todten wieder aufgeweckt, um seine Beichte abzulegen, und geht darauf in den
Himmel ein. — Das ist freilich ein sittliches Princip, gegen das uns die Schicksals¬
idee im „König Oedipus" noch sehr moralisch vorkommt.

Zwar sind diese poetischen Anschauungen in ihrer ganzen absurden Consequenz
nur von einem Theile der romantischen Schule angenommen worden; allein sie
haben auch auf unsere größeren Dichter mittelbar einen sehr bedeutenden Einfluß
ausgeübt. Es fiel ihnen nicht ein, die heidnische oder christliche Prädestinations¬
lehre in ihrer vollen Reinheit aufs Theater zu bringen, aber sie entnahmen daraus
jeues Moment des Dämonischen, des Jncommcnsurabeln, das in den Lauf der
natürlichen menschlichen Entwickelung eintrat, und wodurch sie, was nicht zu leugnen
ist, sehr große poetische Wirkungen hervorbrachten.

Von Goethe gilt dies weniger als von Schiller. Am meisten werden wir
in seinen „Wahlverwandtschaften" an die Schicksalsidee erinnert, die sich bei ihm
zu einem gewissen Natursatalismus gestaltet. Wir müssen aber aufrichtig gestehen,
daß wir diesen Fatalismus mehr in der äußern Einkleidung finden, als in der
wirklichen Darstellung. Der Dichter gibt uns soviel symbolische Hindeutungen
auf das Naturgesetz, und der Schluß eröffnet uns den Blick in eine so mystische
Tiefe, daß wir dadurch verwirrt werden. Aber die eigentliche Handlung ist doch,
wie überall bei Goethe in seiner bessern Zeit, aus der Natur der Charaktere
hergeleitet. Goethe ist zu genau und sorfältig im Motiviren, um sich einem
idealen, aus der Individualität heraustretenden Princip hinzugeben; in spätern
Zeiten, wo er durchaus symbolisch dichtete, hörte mit der pragmatischen Motivirung
auch aller innere Zusammenhang ans. Von seinen Dramen wissen wir nur eins
zu nennen, das in das Gebiet der Schicksalstragödie fällt, „die natürliche Tochter".
Hier thürmt sich ein finsteres, unbegreifliches Verhängnis dessen willenlose Träger
die sämmtlichen einzelnen Menschen zu sein scheinen, am Horizont eines ganzen
Volks auf und scheint seinen Hauptschlag ans eine schöne und unschuldige Indi¬
vidualität entladen zu wollen. Wäre das alles, wie sonst bei Goethe gewöhnlich,
in bestimmter concreter Individualisirung durchgeführt, so daß wir Ursache und
Wirkung überall geuau verfolgen könnten, so würden wir auch hier von jener
Schicksalsidee nichts empfinden; aber aus den Individualitäten sind Typen ge¬
worden, und die bestimmenden Motive können wir höchstens errathen, ihr Grund


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/27>, abgerufen am 05.02.2025.