Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

damit ab, ein Verständniß zu gewinnen, aber sie kommen keinen Schritt weiter.
Wir haben in diesem Stück gleichsam Muße, uns mit detaillirtem Entsetzen über
den Sinn der Ereignisse zu erfüllen, während in der vorhergehenden Tragödie
mir die Ereignisse selbst uns Gegenstand waren.

In der reinen Form wie Sophokles das Schicksal walten zu lassen, versagt
uns unsere Religion. Das ist aber kein rein ästhetischer Gesichtspunkt, und wir
werden zugestehen müssen, wenn wir nnr von den äußerlichen Voraussetzungen der
Bühne abstrahiren, daß der König Oedipus trotz seiner unserm germanisch-pro¬
testantischen Princip entgegengesetzten Komposition den gewaltigsten Eindruck auf
uns macht, und daß dieser Eindruck ein durchaus poetischer ist. Wenden wir
uns "um zum spanischen Drama, das nur kurze Zeit darauf unsern dramatischen
Experimenten gleichfalls als Vorbild hingestellt wurde, so werden wir finden, daß
auch das Christenthum eine ganz ähnliche Form des Dämonischen zuläßt. Wir
halten uns nur an die beiden bekanntesten Stücke, "die Andacht zum Kreuz"
und "das Leben ein Traum", vou denen das letzte sogar in der strengen spani¬
schen Form häufig ans unsern Bühnen gesehen wird.

Das "Leben ein Traum" hat in Deutschland theils wegen der sehr bunten,
lebhaft erregten Handlung, theils wegen der seltsamen, aber anziehenden Philo¬
sophie, die sich darin ausspricht, auch auf deu Bühnen großes Interesse erregt.
Grade wie in Oedipus haben wir hier ein Orakel, welches die zukünftige Ent¬
wickelung eines Kindes voraussagt, und ans dieselbe Weise rennt der Mensch,
indem er demselben entgehen will, blind in sein Verderben. Aber Calderon bringt
es nie zu einem wirklich tragische" Ausgang. Wen" in seinen christlichen Dramen
der Himmel mit seinen Wundern stets bei der Hand ist, um deu Conflict auf
eine befriedigende Weise zu lösen, so hängt das mit der Vorstellung zusammen, daß
die Thaten und Ereignisse dieses irdischen Lebens sich nnr in einer Schattenwelt
bewegen, daß sie ein leerer Schein sind und nur insofern eine Bedeutung haben,
als sie in die übernatürliche Symbolik des Himmels aufgenommen werden. Wenn
sich im "Leben ein Traum" die specifisch christliche Dogmatik sehr wenig hervor¬
drängt, so ist doch diese Grnndansfassnng des Lebens die nämliche, und wir dürfen
uns daher nicht wundern, daß in einem symbolische" Neligionsdrama ganz dieselbe
Fabel und beinahe auch dieselbe Aufeinanderfolge von Scenen zu einer Dar¬
stellung des menschlichen Lebens überhaupt, wie es sich im Verhältniß zur Gottheit
entwickelt, benutzt worden ist. In einer ziemlichen Zahl der Caldervnschcn
Stücke finden wir dieselbe Grundanschauung wieder, und sie ist mit einer Leb¬
haftigkeit und einem poetischen Schwung dargestellt, der eigentlich bei diesem
nihilistischen Princip überraschen sollte. -- In der "Andacht zum Kreuz," die,
wenn wir von dem scheußlichen götzeudieuerischeu Princip absehen, technisch das
vollendetste Drama Calderons ist, begeht der Held und die Heldin eine
Reihe unerhörter Greuelthaten, die aber sämmtlich dadurch in einen Schein


damit ab, ein Verständniß zu gewinnen, aber sie kommen keinen Schritt weiter.
Wir haben in diesem Stück gleichsam Muße, uns mit detaillirtem Entsetzen über
den Sinn der Ereignisse zu erfüllen, während in der vorhergehenden Tragödie
mir die Ereignisse selbst uns Gegenstand waren.

In der reinen Form wie Sophokles das Schicksal walten zu lassen, versagt
uns unsere Religion. Das ist aber kein rein ästhetischer Gesichtspunkt, und wir
werden zugestehen müssen, wenn wir nnr von den äußerlichen Voraussetzungen der
Bühne abstrahiren, daß der König Oedipus trotz seiner unserm germanisch-pro¬
testantischen Princip entgegengesetzten Komposition den gewaltigsten Eindruck auf
uns macht, und daß dieser Eindruck ein durchaus poetischer ist. Wenden wir
uns »um zum spanischen Drama, das nur kurze Zeit darauf unsern dramatischen
Experimenten gleichfalls als Vorbild hingestellt wurde, so werden wir finden, daß
auch das Christenthum eine ganz ähnliche Form des Dämonischen zuläßt. Wir
halten uns nur an die beiden bekanntesten Stücke, „die Andacht zum Kreuz"
und „das Leben ein Traum", vou denen das letzte sogar in der strengen spani¬
schen Form häufig ans unsern Bühnen gesehen wird.

Das „Leben ein Traum" hat in Deutschland theils wegen der sehr bunten,
lebhaft erregten Handlung, theils wegen der seltsamen, aber anziehenden Philo¬
sophie, die sich darin ausspricht, auch auf deu Bühnen großes Interesse erregt.
Grade wie in Oedipus haben wir hier ein Orakel, welches die zukünftige Ent¬
wickelung eines Kindes voraussagt, und ans dieselbe Weise rennt der Mensch,
indem er demselben entgehen will, blind in sein Verderben. Aber Calderon bringt
es nie zu einem wirklich tragische» Ausgang. Wen» in seinen christlichen Dramen
der Himmel mit seinen Wundern stets bei der Hand ist, um deu Conflict auf
eine befriedigende Weise zu lösen, so hängt das mit der Vorstellung zusammen, daß
die Thaten und Ereignisse dieses irdischen Lebens sich nnr in einer Schattenwelt
bewegen, daß sie ein leerer Schein sind und nur insofern eine Bedeutung haben,
als sie in die übernatürliche Symbolik des Himmels aufgenommen werden. Wenn
sich im „Leben ein Traum" die specifisch christliche Dogmatik sehr wenig hervor¬
drängt, so ist doch diese Grnndansfassnng des Lebens die nämliche, und wir dürfen
uns daher nicht wundern, daß in einem symbolische» Neligionsdrama ganz dieselbe
Fabel und beinahe auch dieselbe Aufeinanderfolge von Scenen zu einer Dar¬
stellung des menschlichen Lebens überhaupt, wie es sich im Verhältniß zur Gottheit
entwickelt, benutzt worden ist. In einer ziemlichen Zahl der Caldervnschcn
Stücke finden wir dieselbe Grundanschauung wieder, und sie ist mit einer Leb¬
haftigkeit und einem poetischen Schwung dargestellt, der eigentlich bei diesem
nihilistischen Princip überraschen sollte. — In der „Andacht zum Kreuz," die,
wenn wir von dem scheußlichen götzeudieuerischeu Princip absehen, technisch das
vollendetste Drama Calderons ist, begeht der Held und die Heldin eine
Reihe unerhörter Greuelthaten, die aber sämmtlich dadurch in einen Schein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96731"/>
          <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50"> damit ab, ein Verständniß zu gewinnen, aber sie kommen keinen Schritt weiter.<lb/>
Wir haben in diesem Stück gleichsam Muße, uns mit detaillirtem Entsetzen über<lb/>
den Sinn der Ereignisse zu erfüllen, während in der vorhergehenden Tragödie<lb/>
mir die Ereignisse selbst uns Gegenstand waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_52"> In der reinen Form wie Sophokles das Schicksal walten zu lassen, versagt<lb/>
uns unsere Religion. Das ist aber kein rein ästhetischer Gesichtspunkt, und wir<lb/>
werden zugestehen müssen, wenn wir nnr von den äußerlichen Voraussetzungen der<lb/>
Bühne abstrahiren, daß der König Oedipus trotz seiner unserm germanisch-pro¬<lb/>
testantischen Princip entgegengesetzten Komposition den gewaltigsten Eindruck auf<lb/>
uns macht, und daß dieser Eindruck ein durchaus poetischer ist. Wenden wir<lb/>
uns »um zum spanischen Drama, das nur kurze Zeit darauf unsern dramatischen<lb/>
Experimenten gleichfalls als Vorbild hingestellt wurde, so werden wir finden, daß<lb/>
auch das Christenthum eine ganz ähnliche Form des Dämonischen zuläßt. Wir<lb/>
halten uns nur an die beiden bekanntesten Stücke, &#x201E;die Andacht zum Kreuz"<lb/>
und &#x201E;das Leben ein Traum", vou denen das letzte sogar in der strengen spani¬<lb/>
schen Form häufig ans unsern Bühnen gesehen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_53" next="#ID_54"> Das &#x201E;Leben ein Traum" hat in Deutschland theils wegen der sehr bunten,<lb/>
lebhaft erregten Handlung, theils wegen der seltsamen, aber anziehenden Philo¬<lb/>
sophie, die sich darin ausspricht, auch auf deu Bühnen großes Interesse erregt.<lb/>
Grade wie in Oedipus haben wir hier ein Orakel, welches die zukünftige Ent¬<lb/>
wickelung eines Kindes voraussagt, und ans dieselbe Weise rennt der Mensch,<lb/>
indem er demselben entgehen will, blind in sein Verderben. Aber Calderon bringt<lb/>
es nie zu einem wirklich tragische» Ausgang. Wen» in seinen christlichen Dramen<lb/>
der Himmel mit seinen Wundern stets bei der Hand ist, um deu Conflict auf<lb/>
eine befriedigende Weise zu lösen, so hängt das mit der Vorstellung zusammen, daß<lb/>
die Thaten und Ereignisse dieses irdischen Lebens sich nnr in einer Schattenwelt<lb/>
bewegen, daß sie ein leerer Schein sind und nur insofern eine Bedeutung haben,<lb/>
als sie in die übernatürliche Symbolik des Himmels aufgenommen werden. Wenn<lb/>
sich im &#x201E;Leben ein Traum" die specifisch christliche Dogmatik sehr wenig hervor¬<lb/>
drängt, so ist doch diese Grnndansfassnng des Lebens die nämliche, und wir dürfen<lb/>
uns daher nicht wundern, daß in einem symbolische» Neligionsdrama ganz dieselbe<lb/>
Fabel und beinahe auch dieselbe Aufeinanderfolge von Scenen zu einer Dar¬<lb/>
stellung des menschlichen Lebens überhaupt, wie es sich im Verhältniß zur Gottheit<lb/>
entwickelt, benutzt worden ist. In einer ziemlichen Zahl der Caldervnschcn<lb/>
Stücke finden wir dieselbe Grundanschauung wieder, und sie ist mit einer Leb¬<lb/>
haftigkeit und einem poetischen Schwung dargestellt, der eigentlich bei diesem<lb/>
nihilistischen Princip überraschen sollte. &#x2014; In der &#x201E;Andacht zum Kreuz," die,<lb/>
wenn wir von dem scheußlichen götzeudieuerischeu Princip absehen, technisch das<lb/>
vollendetste Drama Calderons ist, begeht der Held und die Heldin eine<lb/>
Reihe unerhörter Greuelthaten, die aber sämmtlich dadurch in einen Schein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] damit ab, ein Verständniß zu gewinnen, aber sie kommen keinen Schritt weiter. Wir haben in diesem Stück gleichsam Muße, uns mit detaillirtem Entsetzen über den Sinn der Ereignisse zu erfüllen, während in der vorhergehenden Tragödie mir die Ereignisse selbst uns Gegenstand waren. In der reinen Form wie Sophokles das Schicksal walten zu lassen, versagt uns unsere Religion. Das ist aber kein rein ästhetischer Gesichtspunkt, und wir werden zugestehen müssen, wenn wir nnr von den äußerlichen Voraussetzungen der Bühne abstrahiren, daß der König Oedipus trotz seiner unserm germanisch-pro¬ testantischen Princip entgegengesetzten Komposition den gewaltigsten Eindruck auf uns macht, und daß dieser Eindruck ein durchaus poetischer ist. Wenden wir uns »um zum spanischen Drama, das nur kurze Zeit darauf unsern dramatischen Experimenten gleichfalls als Vorbild hingestellt wurde, so werden wir finden, daß auch das Christenthum eine ganz ähnliche Form des Dämonischen zuläßt. Wir halten uns nur an die beiden bekanntesten Stücke, „die Andacht zum Kreuz" und „das Leben ein Traum", vou denen das letzte sogar in der strengen spani¬ schen Form häufig ans unsern Bühnen gesehen wird. Das „Leben ein Traum" hat in Deutschland theils wegen der sehr bunten, lebhaft erregten Handlung, theils wegen der seltsamen, aber anziehenden Philo¬ sophie, die sich darin ausspricht, auch auf deu Bühnen großes Interesse erregt. Grade wie in Oedipus haben wir hier ein Orakel, welches die zukünftige Ent¬ wickelung eines Kindes voraussagt, und ans dieselbe Weise rennt der Mensch, indem er demselben entgehen will, blind in sein Verderben. Aber Calderon bringt es nie zu einem wirklich tragische» Ausgang. Wen» in seinen christlichen Dramen der Himmel mit seinen Wundern stets bei der Hand ist, um deu Conflict auf eine befriedigende Weise zu lösen, so hängt das mit der Vorstellung zusammen, daß die Thaten und Ereignisse dieses irdischen Lebens sich nnr in einer Schattenwelt bewegen, daß sie ein leerer Schein sind und nur insofern eine Bedeutung haben, als sie in die übernatürliche Symbolik des Himmels aufgenommen werden. Wenn sich im „Leben ein Traum" die specifisch christliche Dogmatik sehr wenig hervor¬ drängt, so ist doch diese Grnndansfassnng des Lebens die nämliche, und wir dürfen uns daher nicht wundern, daß in einem symbolische» Neligionsdrama ganz dieselbe Fabel und beinahe auch dieselbe Aufeinanderfolge von Scenen zu einer Dar¬ stellung des menschlichen Lebens überhaupt, wie es sich im Verhältniß zur Gottheit entwickelt, benutzt worden ist. In einer ziemlichen Zahl der Caldervnschcn Stücke finden wir dieselbe Grundanschauung wieder, und sie ist mit einer Leb¬ haftigkeit und einem poetischen Schwung dargestellt, der eigentlich bei diesem nihilistischen Princip überraschen sollte. — In der „Andacht zum Kreuz," die, wenn wir von dem scheußlichen götzeudieuerischeu Princip absehen, technisch das vollendetste Drama Calderons ist, begeht der Held und die Heldin eine Reihe unerhörter Greuelthaten, die aber sämmtlich dadurch in einen Schein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/26>, abgerufen am 05.02.2025.