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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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liebe Vorstellung halten; und da müssen wir gestehen, daß uns die Eumenide",
die aus dem dunkeln Schoß ihres unterirdischen Heiligthums den Oedipus zu
sich rufen, noch viel dunkler, dämonischer, fremder "ut grauenhafter vorkommen,
als die Eumeniden des Aeschylus in der ganzen Fülle ihrer entsetzlichen Erschei¬
nung. Sophokles hat über den Conflict des Schicksals gegen das Sittengesetz
noch viel tiefer nachgedacht, oder, wenn wir wollen, gegrübelt, als Aeschylus;
aber er ist ebensowenig zu einer Lösung gekommen. Der ganze Inhalt des Oedipus
Koloneus kommt uns so seltsam vor, daß wir trotz der wunderbar schönen poeti¬
schen Darstellung uns nicht klar machen können, was er in uns für ein Gefühl
erregen soll; wir empfinden nur Schrecken und Grauen, aber keineswegs jene
tragische Erschütterung, in der zugleich eine gewisse Versöhnung liegt.

Der Oedipus ist das Vorbild und Muster aller Schicksalstragödien; er ist
auch die Hauptstudie Schillers gewesen, als er an seine größern dramatischen
Arbeiten ging. Die Oekonomie ist in der That um so meisterhafter, als
die Aufgabe schwierig ist; denn die Tragödie bringt nur ans Licht, was vor¬
her geschehen ist, und doch ist uns alles in erschütternder Gegenwart.
Oedipus hat nichts gethan, was nach seinen Motiven und nach dem Maßstab
der griechischen Sittlichkeit betrachtet irgendwie tadelnswerth wäre, und doch hat
er, ohne es zu wissen, die größte Schuld auf sich geladen, und diese Schuld ist
nicht dem Zufall angehörig, sie ist ihm schon bei der Geburt pradestinirt, und
grade die fromme Bemühung, dieser ihm durch ein Orakel vorausverkündeten
Schuld zu entgehen, treibt ihn in die Schuld hinein. Man ist von Seiten
neuerer Aesthetiker, um die Ehre der Griechen zu retten, so gutmüthig gewesen,
zu behaupten, die neuern Schicksalstragöden hätten das Wesen des antiken Schick¬
sals mißverstanden; aber im Gegentheil, was Schiller in der Jungfrau und in
der Braut von Messina, Goethe in der Natürlichen Tochter, Werner im Vier¬
undzwanzigsten Februar, Müllner in der Schuld, Schlegel im Alarkos, Houwald
in dem Leuchtthurm, Grillparzer in der Ahnfrau geleistet haben, ist noch lange
nicht so unverständlich, fremdartig und schrecklich, als das Gespenst des Schicksals
im Sophokles. Don Cesar begeht doch ein wirkliches Verbrechen, als er seinen
Bruder tödtet; Alarkos betrügt zuerst die Prinzessin, nachher tobtet er, freilich
durch den Ehrbegriff verleitet, seine Frau; Kurt Kuruth, GrafHugo, Jaromir u.s.w.
siud wirkliche Mörder. Freilich trete" überall Umstände ein, die sie nicht wissen konnten,
und die ihre Schuld erschweren, aber schuldig siud sie alle. Oedipus dagegen hat sich
nichts vorzuwerfen, und dennoch steht er in seinen eigenen Augen, wie in den Augen
des gesammten Griechenlands und der Götter als ein schrecklicher Verbrecher da.
Das ist doch eine Prädestinationslehre, an die selbst der Calvinismus nicht hiuan-
rcicht; und die sich daran anknüpfende Tragödie vom Tod des Oedipus dient
nur noch dazu, uns dieses Grauen nach allen Seiten hin deutlicher und gegen¬
wärtiger zu machen. Alle Menschen, die in dem Stück auftrete", quälen sich


Grenzboten, IV. 18ö3> 3

liebe Vorstellung halten; und da müssen wir gestehen, daß uns die Eumenide»,
die aus dem dunkeln Schoß ihres unterirdischen Heiligthums den Oedipus zu
sich rufen, noch viel dunkler, dämonischer, fremder »ut grauenhafter vorkommen,
als die Eumeniden des Aeschylus in der ganzen Fülle ihrer entsetzlichen Erschei¬
nung. Sophokles hat über den Conflict des Schicksals gegen das Sittengesetz
noch viel tiefer nachgedacht, oder, wenn wir wollen, gegrübelt, als Aeschylus;
aber er ist ebensowenig zu einer Lösung gekommen. Der ganze Inhalt des Oedipus
Koloneus kommt uns so seltsam vor, daß wir trotz der wunderbar schönen poeti¬
schen Darstellung uns nicht klar machen können, was er in uns für ein Gefühl
erregen soll; wir empfinden nur Schrecken und Grauen, aber keineswegs jene
tragische Erschütterung, in der zugleich eine gewisse Versöhnung liegt.

Der Oedipus ist das Vorbild und Muster aller Schicksalstragödien; er ist
auch die Hauptstudie Schillers gewesen, als er an seine größern dramatischen
Arbeiten ging. Die Oekonomie ist in der That um so meisterhafter, als
die Aufgabe schwierig ist; denn die Tragödie bringt nur ans Licht, was vor¬
her geschehen ist, und doch ist uns alles in erschütternder Gegenwart.
Oedipus hat nichts gethan, was nach seinen Motiven und nach dem Maßstab
der griechischen Sittlichkeit betrachtet irgendwie tadelnswerth wäre, und doch hat
er, ohne es zu wissen, die größte Schuld auf sich geladen, und diese Schuld ist
nicht dem Zufall angehörig, sie ist ihm schon bei der Geburt pradestinirt, und
grade die fromme Bemühung, dieser ihm durch ein Orakel vorausverkündeten
Schuld zu entgehen, treibt ihn in die Schuld hinein. Man ist von Seiten
neuerer Aesthetiker, um die Ehre der Griechen zu retten, so gutmüthig gewesen,
zu behaupten, die neuern Schicksalstragöden hätten das Wesen des antiken Schick¬
sals mißverstanden; aber im Gegentheil, was Schiller in der Jungfrau und in
der Braut von Messina, Goethe in der Natürlichen Tochter, Werner im Vier¬
undzwanzigsten Februar, Müllner in der Schuld, Schlegel im Alarkos, Houwald
in dem Leuchtthurm, Grillparzer in der Ahnfrau geleistet haben, ist noch lange
nicht so unverständlich, fremdartig und schrecklich, als das Gespenst des Schicksals
im Sophokles. Don Cesar begeht doch ein wirkliches Verbrechen, als er seinen
Bruder tödtet; Alarkos betrügt zuerst die Prinzessin, nachher tobtet er, freilich
durch den Ehrbegriff verleitet, seine Frau; Kurt Kuruth, GrafHugo, Jaromir u.s.w.
siud wirkliche Mörder. Freilich trete» überall Umstände ein, die sie nicht wissen konnten,
und die ihre Schuld erschweren, aber schuldig siud sie alle. Oedipus dagegen hat sich
nichts vorzuwerfen, und dennoch steht er in seinen eigenen Augen, wie in den Augen
des gesammten Griechenlands und der Götter als ein schrecklicher Verbrecher da.
Das ist doch eine Prädestinationslehre, an die selbst der Calvinismus nicht hiuan-
rcicht; und die sich daran anknüpfende Tragödie vom Tod des Oedipus dient
nur noch dazu, uns dieses Grauen nach allen Seiten hin deutlicher und gegen¬
wärtiger zu machen. Alle Menschen, die in dem Stück auftrete», quälen sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/25>, abgerufen am 05.02.2025.