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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Orestes ist zum Rächer seines Vaters berufen, und er muß, um diesem Beruf
nachzukommen, die Stimme des Bluts, die natürliche Pietät gegen seine Mutter
aus den Augen setzen. Wir bemerken beiläufig, daß dieser Gefühlscouflict, der
bei Aeschylus noch sehr scharf ausgedrückt wird, in der entsprechenden Tragödie
des Sophokles ganz aufhört, worin wir, trotz der bei weitem großern Form¬
vollendung doch eine gewisse Verwilderung des Gefühls wahrzunehmen glauben.
Ganz merkwürdig ist der Schluß der Elektra bei Aeschylus. Orestes fühlt bereits
das Herannahen der Erinnyen, die ih" zum Wahnsinn treiben, aber noch in
diesem Augenblick, ehe er sich ihnen überläßt, erklärt er feierlich, er habe seine
Pflicht gethan, indem er die Pietät verletzte. Der Conflict in seiner Seele ist
also so stark ausgesprochen, als möglich, und man würde nach unsern Begriffen
erwarten, die Lösung müsse von innen heraus, durch Vermittelung des bestimmten
Charakters des Helden erfolgen; aber das Gegentheil geschieht. Es zeigt sich,
daß der Mensch ein bloßes Substrat der göttlichen Mächte ist, daß er ihnen
keinen sittlichen und psychischen Inhalt entgegenbringt. Die sittlichen Mächte, die
sich in des Orestes Seele bekämpften, nehmen eine äußerliche Gestalt an, für
die eine tritt Apollo, für die andere die Eumeniden ein, Orestes selbst ist ein
willenloses Schlachtopfer, und jene beiden Mächte finden auch keinen andern
Austrag ihres Streits, als daß sie an einen Gerichtshof appelliren. In dem
Stück nun, das diesen Proceß darstellt, finden wir auf der einen Seite in der
Darstellung von der Gewalt der Eumeniden die höchste Poesie, eine Poesie, der,
wir in der Art gar nichts an die Seite stelle" können, und die von Schiller in
den Kranichen des Ibykus anf das schönste nachgefühlt worden ist. Allein diese
Poesie ist rein dämonischer Natur, das heißt, es wird Grauen und Entsetzen in
uns erregt, aber ohne alles Verständniß, nur durch ein dunkles Gefühl vermittelt.
Der eigentlich dramatische Inhalt des Stücks dagegen ist die nackteste Prosa.
Die Sophismen, welche sowol die beiden Advocaten des Rechtsstreits, als zuletzt
die Richterin Athene anwenden, sind so handgreiflich, daß wir es bei einem
so großen Dichter "ur dadurch verstehen können, daß in der Religion, in der er
aufgewachsen war, eine dramatisch cxplicirte Lösung des Conflicts überhaupt nicht
gedacht werden konnte.

Sehr sonderbar ist es, daß Aeschylus in seinen Eumeniden in einer ähnlichen
Weise schließt, wie Sophokles in seinem Oedipus in Kolonos. Die Eumeniden
werden nämlich zuletzt durch Schmeicheleien und Versprechungen versöhnt; sie
hören auf, die schrecklichen Rachegeister zu sein, und ziehen sich in ein unter¬
irdisches Heiligthum zurück, wo sie als Schutzgötter Athens walten. In dieses
unterirdische Heiligthum nehmen sie dann den blinden Oedipus anf, dessen'Ge¬
beine wiederum dazu dienen müssen, der Große und Macht Athens eine ewige
Bürgschaft zu geben. Wir wollen von der eaMtlo bLnevolenli^ez für das Pu-
blicum, die in beiden Fallen zu Grunde lag, absehen, und uns uur an die sitt-


Orestes ist zum Rächer seines Vaters berufen, und er muß, um diesem Beruf
nachzukommen, die Stimme des Bluts, die natürliche Pietät gegen seine Mutter
aus den Augen setzen. Wir bemerken beiläufig, daß dieser Gefühlscouflict, der
bei Aeschylus noch sehr scharf ausgedrückt wird, in der entsprechenden Tragödie
des Sophokles ganz aufhört, worin wir, trotz der bei weitem großern Form¬
vollendung doch eine gewisse Verwilderung des Gefühls wahrzunehmen glauben.
Ganz merkwürdig ist der Schluß der Elektra bei Aeschylus. Orestes fühlt bereits
das Herannahen der Erinnyen, die ih» zum Wahnsinn treiben, aber noch in
diesem Augenblick, ehe er sich ihnen überläßt, erklärt er feierlich, er habe seine
Pflicht gethan, indem er die Pietät verletzte. Der Conflict in seiner Seele ist
also so stark ausgesprochen, als möglich, und man würde nach unsern Begriffen
erwarten, die Lösung müsse von innen heraus, durch Vermittelung des bestimmten
Charakters des Helden erfolgen; aber das Gegentheil geschieht. Es zeigt sich,
daß der Mensch ein bloßes Substrat der göttlichen Mächte ist, daß er ihnen
keinen sittlichen und psychischen Inhalt entgegenbringt. Die sittlichen Mächte, die
sich in des Orestes Seele bekämpften, nehmen eine äußerliche Gestalt an, für
die eine tritt Apollo, für die andere die Eumeniden ein, Orestes selbst ist ein
willenloses Schlachtopfer, und jene beiden Mächte finden auch keinen andern
Austrag ihres Streits, als daß sie an einen Gerichtshof appelliren. In dem
Stück nun, das diesen Proceß darstellt, finden wir auf der einen Seite in der
Darstellung von der Gewalt der Eumeniden die höchste Poesie, eine Poesie, der,
wir in der Art gar nichts an die Seite stelle» können, und die von Schiller in
den Kranichen des Ibykus anf das schönste nachgefühlt worden ist. Allein diese
Poesie ist rein dämonischer Natur, das heißt, es wird Grauen und Entsetzen in
uns erregt, aber ohne alles Verständniß, nur durch ein dunkles Gefühl vermittelt.
Der eigentlich dramatische Inhalt des Stücks dagegen ist die nackteste Prosa.
Die Sophismen, welche sowol die beiden Advocaten des Rechtsstreits, als zuletzt
die Richterin Athene anwenden, sind so handgreiflich, daß wir es bei einem
so großen Dichter »ur dadurch verstehen können, daß in der Religion, in der er
aufgewachsen war, eine dramatisch cxplicirte Lösung des Conflicts überhaupt nicht
gedacht werden konnte.

Sehr sonderbar ist es, daß Aeschylus in seinen Eumeniden in einer ähnlichen
Weise schließt, wie Sophokles in seinem Oedipus in Kolonos. Die Eumeniden
werden nämlich zuletzt durch Schmeicheleien und Versprechungen versöhnt; sie
hören auf, die schrecklichen Rachegeister zu sein, und ziehen sich in ein unter¬
irdisches Heiligthum zurück, wo sie als Schutzgötter Athens walten. In dieses
unterirdische Heiligthum nehmen sie dann den blinden Oedipus anf, dessen'Ge¬
beine wiederum dazu dienen müssen, der Große und Macht Athens eine ewige
Bürgschaft zu geben. Wir wollen von der eaMtlo bLnevolenli^ez für das Pu-
blicum, die in beiden Fallen zu Grunde lag, absehen, und uns uur an die sitt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/24>, abgerufen am 05.02.2025.