Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.Die Aufgabe, welche sich unser Geschichtschreiber stellt, ist nämlich der Hauptsache Die Aufgabe, welche sich unser Geschichtschreiber stellt, ist nämlich der Hauptsache <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96918"/> <p xml:id="ID_577" next="#ID_578"> Die Aufgabe, welche sich unser Geschichtschreiber stellt, ist nämlich der Hauptsache<lb/> nach folgende. Man hat von dem deutschen Heidenthum, namentlich seit den<lb/> großen Forschungen I. Grimms, ein sehr reichhaltiges und in einzelnen Zügen bunt<lb/> und lebensvoll ausgeführtes Bild. Aber man hat noch nicht den Versuch gemacht,<lb/> in dieses Gemälde eine geschichtliche Gliederung einzuführen. Man hat die Zeug¬<lb/> nisse der römischen Schriftsteller seit Cäsar, die Traditionen, Märchen und die<lb/> übrigen Quellen, soweit sie auch der Zeit nach auseinander liegen, nur nach dem<lb/> einzigen Unterschied gefragt, ob sie heidnisch-germanische oder christlich-römische<lb/> Momente enthielten; man hat das römische Christenthum, wenigstens im Gro¬<lb/> ßen und Ganzen, als ein äußerliches Schicksal aufgefaßt, welches die heidnisch-<lb/> germanische Weltanschauung ereilte, und bis auf einige dunkle Spuren, die sich<lb/> in das Reich der Sage und Poesie flüchteten, begrub. Nach einem innern Zu¬<lb/> sammenhang zwischen beiden hat man nicht gesucht: vielleicht zum Theil, weil man<lb/> trotz seiner Opposition gegen den Rationalismus vulgaris im Christenthum doch<lb/> hauptsächlich nur die rationalistischen Momente hervorkehrte. Herr Rückert geht<lb/> dagegen von einer unbefangenen nud zugleich eindringenden Auffassung des Christen¬<lb/> thums ans. „Man kann behaupten, sagt er S. 27, daß das Christenthum in<lb/> seiner allgemeinsten Fassung zwar nicht aus eiuer totalen Verzweiflung an der bis<lb/> zu seiner Zeit giltigen religiösen und sittlichen Weltauffassung hervorgegangen<lb/> ist . . aber daß es eine solche voraussetzte als die nothwendige Bedingung,<lb/> um seinen positiven Gehalt wirksam werden zu lassen." Mit diesem Gesetz, wel¬<lb/> ches den innersten Lebensnerv des Christenthums berührt, in der Hand, prüft er die<lb/> geschichtliche Entwickelung der Germanen in ihrem Kampf gegen das Römerthum,<lb/> theils nach den Berichten der gleichzeitigen Schriftsteller, theils nach den ganz nothwen¬<lb/> digen Voraussetzungen, welche die veränderte Art und Weise der Beziehung bedingt.<lb/> Er findet in dem Heidenthum, parallel mit der übrigen Cnltnrbildnng, eine<lb/> successive Entwickelung und zwar immer mehr zum Düstern und Verzweifelnden<lb/> hin; er zeigt, wie sich allmälich die Götter, — die idealen Lebensbilder des<lb/> Germanenthums, die jedes Verständniß der christlichen Dogmatik und Moral aus¬<lb/> schlossen, weil sie der absolute Gegensatz derselben waren — theils in dämonische,<lb/> den Menschen feindselige Kräfte auflösten, theils sich diesen Kräften gegenüber als<lb/> schwach erwiesen; wie also der Proceß, den man gewöhnlich erst in die christliche<lb/> Zeit verlegt, welche die Götter zu bösen Wesen herabgedrückt habe, zum Theil<lb/> bereits innerhalb des Heidenthums selbst sich vollzieht. Die Anschauungsweise<lb/> des Volksgeistes kehrte sich auf dem Wege des allernatürlichsten, rein von innern<lb/> Momenten beherrschten EntwickelnngsprocesseS um. (S. 1i2.) „Während früher<lb/> der Volksgeist sich in Freundschaft zu den Mächten der Natur gefühlt und nur<lb/> in zweiter Reihe auch eine Ahnung von ihrer Wildheit und Tücke empfunden<lb/> hatte, die gelegentlich losbrechend den Menschen und seine Werke vertilgen konnte,<lb/> so war jetzt die Natur wesentlich mit feindseligen Mächten erfüllt, die dem Mer-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0213]
Die Aufgabe, welche sich unser Geschichtschreiber stellt, ist nämlich der Hauptsache
nach folgende. Man hat von dem deutschen Heidenthum, namentlich seit den
großen Forschungen I. Grimms, ein sehr reichhaltiges und in einzelnen Zügen bunt
und lebensvoll ausgeführtes Bild. Aber man hat noch nicht den Versuch gemacht,
in dieses Gemälde eine geschichtliche Gliederung einzuführen. Man hat die Zeug¬
nisse der römischen Schriftsteller seit Cäsar, die Traditionen, Märchen und die
übrigen Quellen, soweit sie auch der Zeit nach auseinander liegen, nur nach dem
einzigen Unterschied gefragt, ob sie heidnisch-germanische oder christlich-römische
Momente enthielten; man hat das römische Christenthum, wenigstens im Gro¬
ßen und Ganzen, als ein äußerliches Schicksal aufgefaßt, welches die heidnisch-
germanische Weltanschauung ereilte, und bis auf einige dunkle Spuren, die sich
in das Reich der Sage und Poesie flüchteten, begrub. Nach einem innern Zu¬
sammenhang zwischen beiden hat man nicht gesucht: vielleicht zum Theil, weil man
trotz seiner Opposition gegen den Rationalismus vulgaris im Christenthum doch
hauptsächlich nur die rationalistischen Momente hervorkehrte. Herr Rückert geht
dagegen von einer unbefangenen nud zugleich eindringenden Auffassung des Christen¬
thums ans. „Man kann behaupten, sagt er S. 27, daß das Christenthum in
seiner allgemeinsten Fassung zwar nicht aus eiuer totalen Verzweiflung an der bis
zu seiner Zeit giltigen religiösen und sittlichen Weltauffassung hervorgegangen
ist . . aber daß es eine solche voraussetzte als die nothwendige Bedingung,
um seinen positiven Gehalt wirksam werden zu lassen." Mit diesem Gesetz, wel¬
ches den innersten Lebensnerv des Christenthums berührt, in der Hand, prüft er die
geschichtliche Entwickelung der Germanen in ihrem Kampf gegen das Römerthum,
theils nach den Berichten der gleichzeitigen Schriftsteller, theils nach den ganz nothwen¬
digen Voraussetzungen, welche die veränderte Art und Weise der Beziehung bedingt.
Er findet in dem Heidenthum, parallel mit der übrigen Cnltnrbildnng, eine
successive Entwickelung und zwar immer mehr zum Düstern und Verzweifelnden
hin; er zeigt, wie sich allmälich die Götter, — die idealen Lebensbilder des
Germanenthums, die jedes Verständniß der christlichen Dogmatik und Moral aus¬
schlossen, weil sie der absolute Gegensatz derselben waren — theils in dämonische,
den Menschen feindselige Kräfte auflösten, theils sich diesen Kräften gegenüber als
schwach erwiesen; wie also der Proceß, den man gewöhnlich erst in die christliche
Zeit verlegt, welche die Götter zu bösen Wesen herabgedrückt habe, zum Theil
bereits innerhalb des Heidenthums selbst sich vollzieht. Die Anschauungsweise
des Volksgeistes kehrte sich auf dem Wege des allernatürlichsten, rein von innern
Momenten beherrschten EntwickelnngsprocesseS um. (S. 1i2.) „Während früher
der Volksgeist sich in Freundschaft zu den Mächten der Natur gefühlt und nur
in zweiter Reihe auch eine Ahnung von ihrer Wildheit und Tücke empfunden
hatte, die gelegentlich losbrechend den Menschen und seine Werke vertilgen konnte,
so war jetzt die Natur wesentlich mit feindseligen Mächten erfüllt, die dem Mer-
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