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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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geht mit dem Allerheiligsten vorüber. Das Glöckchen, das an Leiden und
Sterben erinnert, hat mit seinem hellen Ton den Hader zu Grabe geläutet. Alle
kehren ernst zu den Geschäften zurück.

Die Sonne steigt, die Bäume der Place Grommont vermögen nicht mehr
vor der Hitze zu schützen; Mauern und Trottoirs scheinen die Sonnenstrahlen
zurückzuwerfen. Die Maulthiere stehn mit gesenkten Köpfen, die Frauen ziehn
das wollene Capuchon dichter zusammen. Der Spanier legt sich in Decke oder
Mantel gehüllt auf die Erde, und sieht rauchend mit Verachtung zu, wie sich
die Marktfrauen Brod und Käse, Speck und Zwiebeln, Kastanien und Wein
vortrefflich schmecken lassen. Wahrscheinlich ist der Hidalgo einige Tage ohne
Arbeit gewesen und seine Taschen sind leer, wie sein Magen -- aber was thuts!
So lange er den Cigaretto nicht entbehrt, so lange er sich halbschlafend im
Sonnenschein ausstrecken kann, ist ihm das Leben Genuß. In Bayonne hat er
auch den Schmerz des EM nicht in dem Maße, wie in andern französischen
Städten: die hohen Gebäude mit den Balkonen und Arkaden, die alte Kathedrale,
die Bettlerschaar auf den Stufen der Kirche, die Mönche und Juden, die
Kastanienverkäufer und Maulthiertreiber; der Schmutz der Straßen und die
Sonnenwärme erinnern ihn an sein glückseliges Vaterland. Nur mehr Wohlstand,
mehr Leben, mehr Thätigkeit ist hier.

Am Mittag erlahmt indessen auch des Franzosen Rührigkeit. Einige Stunden
werden dem Mahl und der Siesta gegönnt, dann wird es wieder laut in deu
Werkstätten und Straßen, die Kinder gehen in die Schule und die Verkäufer
preise" schreiend ihre Waare.

Mit hereinbrechender Dämmerung ändert sich die Scene. Die Landleute
treten den Heimweg an, die elegante Welt beginnt sich zu zeigen und die An¬
dächtigen eilen zur Vesper.

Bayonne ist reich an Kirchen und Klöstern. Wie überall hat anch hier jedes
Marienbild seine Partei, jeder Pater seine treugehorsame Horde; aber die
Fremden, denen diese innern Vorzüge unbekannt sind, wenden sich hauptsächlich
der ^Kathedrale zu. Sie ist im 1i> Jahrhundert vou den Engländern gegründet,
und wenn sie auch uicht zu deu besten Denkmälern gothischer Baukunst gehört,
erweckt sie doch lebhaft unser Interesse für jene glaubensstarke Zeit, deren
steinerne Bekenntnisse wir vergebens zu wiederholen suchen. Diese Strebepfeiler
und Bogenfenster, diese Portale und Thüren sind urkräftig aus einem Gedanken
entsprungen, und trotz aller Vielseitigkeit des Ausdrucks in Schmuck und Bilder¬
werk zu einer Einheit aufgewachsen, die uns sagt, daß damals nur innerhalb
der Kirche die Gottheit gesucht und gefunden wurde, daß jeder höhere Drang
von ihr Sättigung begehrte, ihr seine Kraft und Thätigkeit weihte, und dadurch
ihre äußere Erscheinung die Bundeslade alles Lebens wurde. Und heute noch
machen diese Dome, die wir das versteinerte Bewußtsein des Mittelalters nennen könn-


geht mit dem Allerheiligsten vorüber. Das Glöckchen, das an Leiden und
Sterben erinnert, hat mit seinem hellen Ton den Hader zu Grabe geläutet. Alle
kehren ernst zu den Geschäften zurück.

Die Sonne steigt, die Bäume der Place Grommont vermögen nicht mehr
vor der Hitze zu schützen; Mauern und Trottoirs scheinen die Sonnenstrahlen
zurückzuwerfen. Die Maulthiere stehn mit gesenkten Köpfen, die Frauen ziehn
das wollene Capuchon dichter zusammen. Der Spanier legt sich in Decke oder
Mantel gehüllt auf die Erde, und sieht rauchend mit Verachtung zu, wie sich
die Marktfrauen Brod und Käse, Speck und Zwiebeln, Kastanien und Wein
vortrefflich schmecken lassen. Wahrscheinlich ist der Hidalgo einige Tage ohne
Arbeit gewesen und seine Taschen sind leer, wie sein Magen — aber was thuts!
So lange er den Cigaretto nicht entbehrt, so lange er sich halbschlafend im
Sonnenschein ausstrecken kann, ist ihm das Leben Genuß. In Bayonne hat er
auch den Schmerz des EM nicht in dem Maße, wie in andern französischen
Städten: die hohen Gebäude mit den Balkonen und Arkaden, die alte Kathedrale,
die Bettlerschaar auf den Stufen der Kirche, die Mönche und Juden, die
Kastanienverkäufer und Maulthiertreiber; der Schmutz der Straßen und die
Sonnenwärme erinnern ihn an sein glückseliges Vaterland. Nur mehr Wohlstand,
mehr Leben, mehr Thätigkeit ist hier.

Am Mittag erlahmt indessen auch des Franzosen Rührigkeit. Einige Stunden
werden dem Mahl und der Siesta gegönnt, dann wird es wieder laut in deu
Werkstätten und Straßen, die Kinder gehen in die Schule und die Verkäufer
preise» schreiend ihre Waare.

Mit hereinbrechender Dämmerung ändert sich die Scene. Die Landleute
treten den Heimweg an, die elegante Welt beginnt sich zu zeigen und die An¬
dächtigen eilen zur Vesper.

Bayonne ist reich an Kirchen und Klöstern. Wie überall hat anch hier jedes
Marienbild seine Partei, jeder Pater seine treugehorsame Horde; aber die
Fremden, denen diese innern Vorzüge unbekannt sind, wenden sich hauptsächlich
der ^Kathedrale zu. Sie ist im 1i> Jahrhundert vou den Engländern gegründet,
und wenn sie auch uicht zu deu besten Denkmälern gothischer Baukunst gehört,
erweckt sie doch lebhaft unser Interesse für jene glaubensstarke Zeit, deren
steinerne Bekenntnisse wir vergebens zu wiederholen suchen. Diese Strebepfeiler
und Bogenfenster, diese Portale und Thüren sind urkräftig aus einem Gedanken
entsprungen, und trotz aller Vielseitigkeit des Ausdrucks in Schmuck und Bilder¬
werk zu einer Einheit aufgewachsen, die uns sagt, daß damals nur innerhalb
der Kirche die Gottheit gesucht und gefunden wurde, daß jeder höhere Drang
von ihr Sättigung begehrte, ihr seine Kraft und Thätigkeit weihte, und dadurch
ihre äußere Erscheinung die Bundeslade alles Lebens wurde. Und heute noch
machen diese Dome, die wir das versteinerte Bewußtsein des Mittelalters nennen könn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/60>, abgerufen am 03.07.2024.