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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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und wir sind überzeugt, daß bei einer zweckmäßig eingerichteten Gedichtsammlung
mir ausnahmsweise diese Erlaubniß versagt werden wird. Alsdann ist die Recht¬
lichkeit des Herausgebers außer Gefahr gestellt. Für ein Unternehmen dagegen,
wie das gegenwärtige, würde wol kaum die Erlaubniß ertheilt werden. So ent¬
hält z. B. der vorliegende zweite Theil eine Sammlung von Gedichten von Ana-
stasius Grün, pag. 185 -- 340, also -Iss Seiten, jede Seite zu einigen dreißig
Zeilen. Wenn mau nun den verhältnißmäßig nicht sehr großen Umfang der
Grnnscheu Werke in Anschlag bringt, so wird man wol zugeben, daß eine solche
Benutzung fremden Eigenthums nicht in das Belieben des ersten besten gestellt
werden kaun. Vielleicht würde Graf Auersperg und sein Verleger trotzdem ein¬
gewilligt haben, denn die Gedichte sind nebenbei sehr gelobt; aber wenn die An¬
frage und die Ertheilung der Erlaubniß nicht vorausgegangen ist, so hat der
Herausgeber ein offenbares Unrecht begangen. -- Die übrigen Beiträge zu die¬
sem Bande sind unbedeutend; es sind darunter Gedichte von Armin, Arnold,
Therese von Artner, Arvelius, Ascher, Aschenfeld, Rosa Maria Ussing, der Schwe¬
ster Varnhagens, und Berthold Auerbach. Zum Schluß folgt ein bibliographischer
Anhang, in dem diejenigen Dichter kurz bespreche" werden, von denen keine Ge¬
dichte aufgenommen sind. --

Die "Mainsagen" haben einen wesentlich andern Charakter. Ein großer Theil
dieser gesammelten Gedichte ist von dem Herausgeber selbst, und die übrigen sind
meistens von Dichtern, die dem Publicum nicht sehr zugänglich sind. Außerdem
beziehen sich alle auf einen bestimmten Gegenstand, und deshalb macht das Werk
den Eindruck eines Ganzen. Der Herausgeber leitet dasselbe mit den schonen
Worten Grimms ein: "Um alles menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die
Natur und Landschaft besitzt, oder wessen die Geschichte gemahnt, sammelt sich ein
Duft von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau anläßt und
zarter, feiner Staub um Obst und Blumen setzt." -- Die meisten dieser Gedichte
behandeln wirkliche im Mund des Volkes fortlebende Sagen, wenn sich auch in
der freien poetischen Bearbeitung nicht immer mehr der naturwüchsige Ton ganz
erkennen läßt. Vortrefflich drückt sich der Herausgeber darüber aus: "Mir ist die
Sage, wie sie es uns allen sein sollte, nicht blos Gegenstand der Forschung,
sondern auch der Pietät. Sie kommt mir vor wie der letzte Kuß, welchen die
der Auflösung sich nähernde Vergangenheit ihrer jüngeren blühenden Schwester,
der neuen Zeit, ans die Lippen drückt. Wol schwindet die Sage im Volks¬
bewußtsein mehr und mehr; der tiefe, stille Sinn der sich in ihr barg, bedarf
der Hülle täglich weniger; erloschen und vergessen aber ist die Sage noch nicht.
Solange sie lebt, hat sie auch ein Recht auf Leben, und vielleicht ist grade die
poetische Darstellung, vor allem wenn sich die Dichter mehr an heitere, son¬
nige, humoristische Stoffe halten, als an düstere oder mystisch unverständ¬
liche, dazu berufen, dem hinwelkenden Leben noch einmal Frische einzuhauchen.


und wir sind überzeugt, daß bei einer zweckmäßig eingerichteten Gedichtsammlung
mir ausnahmsweise diese Erlaubniß versagt werden wird. Alsdann ist die Recht¬
lichkeit des Herausgebers außer Gefahr gestellt. Für ein Unternehmen dagegen,
wie das gegenwärtige, würde wol kaum die Erlaubniß ertheilt werden. So ent¬
hält z. B. der vorliegende zweite Theil eine Sammlung von Gedichten von Ana-
stasius Grün, pag. 185 — 340, also -Iss Seiten, jede Seite zu einigen dreißig
Zeilen. Wenn mau nun den verhältnißmäßig nicht sehr großen Umfang der
Grnnscheu Werke in Anschlag bringt, so wird man wol zugeben, daß eine solche
Benutzung fremden Eigenthums nicht in das Belieben des ersten besten gestellt
werden kaun. Vielleicht würde Graf Auersperg und sein Verleger trotzdem ein¬
gewilligt haben, denn die Gedichte sind nebenbei sehr gelobt; aber wenn die An¬
frage und die Ertheilung der Erlaubniß nicht vorausgegangen ist, so hat der
Herausgeber ein offenbares Unrecht begangen. — Die übrigen Beiträge zu die¬
sem Bande sind unbedeutend; es sind darunter Gedichte von Armin, Arnold,
Therese von Artner, Arvelius, Ascher, Aschenfeld, Rosa Maria Ussing, der Schwe¬
ster Varnhagens, und Berthold Auerbach. Zum Schluß folgt ein bibliographischer
Anhang, in dem diejenigen Dichter kurz bespreche» werden, von denen keine Ge¬
dichte aufgenommen sind. —

Die „Mainsagen" haben einen wesentlich andern Charakter. Ein großer Theil
dieser gesammelten Gedichte ist von dem Herausgeber selbst, und die übrigen sind
meistens von Dichtern, die dem Publicum nicht sehr zugänglich sind. Außerdem
beziehen sich alle auf einen bestimmten Gegenstand, und deshalb macht das Werk
den Eindruck eines Ganzen. Der Herausgeber leitet dasselbe mit den schonen
Worten Grimms ein: „Um alles menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die
Natur und Landschaft besitzt, oder wessen die Geschichte gemahnt, sammelt sich ein
Duft von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau anläßt und
zarter, feiner Staub um Obst und Blumen setzt." — Die meisten dieser Gedichte
behandeln wirkliche im Mund des Volkes fortlebende Sagen, wenn sich auch in
der freien poetischen Bearbeitung nicht immer mehr der naturwüchsige Ton ganz
erkennen läßt. Vortrefflich drückt sich der Herausgeber darüber aus: „Mir ist die
Sage, wie sie es uns allen sein sollte, nicht blos Gegenstand der Forschung,
sondern auch der Pietät. Sie kommt mir vor wie der letzte Kuß, welchen die
der Auflösung sich nähernde Vergangenheit ihrer jüngeren blühenden Schwester,
der neuen Zeit, ans die Lippen drückt. Wol schwindet die Sage im Volks¬
bewußtsein mehr und mehr; der tiefe, stille Sinn der sich in ihr barg, bedarf
der Hülle täglich weniger; erloschen und vergessen aber ist die Sage noch nicht.
Solange sie lebt, hat sie auch ein Recht auf Leben, und vielleicht ist grade die
poetische Darstellung, vor allem wenn sich die Dichter mehr an heitere, son¬
nige, humoristische Stoffe halten, als an düstere oder mystisch unverständ¬
liche, dazu berufen, dem hinwelkenden Leben noch einmal Frische einzuhauchen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/499>, abgerufen am 03.07.2024.