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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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haben keine Vorstellung davon, wer der Verfasser ist; sollte es ein junges Talent
sein, das hier zum ersten Mal vor die Öffentlichkeit tritt, so würden wir die
glänzendsten Erwartungen daran knüpfen, denn soviel Besonnenheit und Reife
des Urtheils mit soviel Energie des Gefühls verknüpft findet man in Deutschland
selten.

Der Grundgedanke des Buchs, der mit großer Konsequenz in allen Einzeln-
heiten durchgeführt ist, geht darauf aus, daß das Staatsrecht nichts Anderes sein
könne, als die Anerkennung der factischen Verhältnisse. "Nur als Macht ist das
Recht zur Herrschaft berufen, d. h. der Herrschaft fähig." (Seite 3.) -- "Wenn
sich die Frage nach der unbedingt guten oder der besten Verfassung nicht gänzlich
abweisen läßt, so ist sie doch jedenfalls die allerletzte, welche die Politik auszu¬
werfen hat. Die beziehungsweise gute oder die richtige Verfassung ist diejenige,
welche alle gesellschaftlichen Kräfte nach ihrem vollen Werth zur staatlichen Geltung
kommen läßt. Je inniger der gesellschaftliche Stoff die staatliche Form durchdringt
und je vollständiger er sie ausfüllt, desto gesunder ist der politische Körper, auch
wenn die äußere Bildung desselben Unregelmäßigkeiten darbietet. Eine falsche
Verfassung ist hingegen diejenige, welche den gesellschaftlichen Kräften die poli¬
tischen Organe versagt, und dadurch die wirksame Verwendung derselben er¬
schwert oder unmöglich macht. Diesen Mißstand pflegt ein zweiter zu begleiten,
der nämlich, daß solche staatliche Glieder, aus denen sich die natürliche Lebenskraft
zurückzieht, vou der Verfassung künstlich gefristet werden. Den umgekehrten Fehler
hat die neuere Verfassuugspvlitik häufig dadurch begangen, daß sie dem Staate
im Namen irgend eines Princips oder einer Theorie willkürlich Organe ange¬
schaffen, denen kein gesellschaftlicher Krafttrieb entsprach, und die demnach, statt der
Lebensthätigkeit des Staats zu dienen, nur wie eine todte Last ans denselben
drücken konnten." (Seite S).

Das ist der vollkommen rationelle Ausdruck für das Princip, welches die
historische Schule aufgestellt, vou dem sie ab.er eine so unerhört falsche Anwendung
gemacht hat. Der Verfasser geht in seinem conservativen Sinn noch weiter.
Er sagt vollkommen richtig (Seite 8): "Die politische Größe des Staats ist
wesentlich mitbedingt durch eine gewisse Stetigkeit, nicht der staatlichen Formen,
sondern der realen gesellschaftlichen Zustände und ihrer Entwickelung. Nur ver¬
möge dieser Stetigkeit wird es möglich, einer bedeutenden Summe gesellschaft¬
licher Kräfte die einheitliche und unveränderliche Richtung auf einen bestimmten
staatlichen Zweck zu geben; nur vermöge dieser Stetigkeit läßt sich die Zeit
gewinnen, die unter allen Umständen erforderlich ist, um große und dauernde
politische Erfolge zu erringen. Durch krampfhafte Anstrengung mag allerdings
riesige Kraft entfaltet werden, aber die augenblicklichen staatlichen Wirkungen der¬
selben werden eine so flüchtig vorübergehende Ursache schwerlich lange überdauern,
es ist vielmehr sehr wahrscheinlich, daß im unausbleiblichen Momente der Er-


haben keine Vorstellung davon, wer der Verfasser ist; sollte es ein junges Talent
sein, das hier zum ersten Mal vor die Öffentlichkeit tritt, so würden wir die
glänzendsten Erwartungen daran knüpfen, denn soviel Besonnenheit und Reife
des Urtheils mit soviel Energie des Gefühls verknüpft findet man in Deutschland
selten.

Der Grundgedanke des Buchs, der mit großer Konsequenz in allen Einzeln-
heiten durchgeführt ist, geht darauf aus, daß das Staatsrecht nichts Anderes sein
könne, als die Anerkennung der factischen Verhältnisse. „Nur als Macht ist das
Recht zur Herrschaft berufen, d. h. der Herrschaft fähig." (Seite 3.) — „Wenn
sich die Frage nach der unbedingt guten oder der besten Verfassung nicht gänzlich
abweisen läßt, so ist sie doch jedenfalls die allerletzte, welche die Politik auszu¬
werfen hat. Die beziehungsweise gute oder die richtige Verfassung ist diejenige,
welche alle gesellschaftlichen Kräfte nach ihrem vollen Werth zur staatlichen Geltung
kommen läßt. Je inniger der gesellschaftliche Stoff die staatliche Form durchdringt
und je vollständiger er sie ausfüllt, desto gesunder ist der politische Körper, auch
wenn die äußere Bildung desselben Unregelmäßigkeiten darbietet. Eine falsche
Verfassung ist hingegen diejenige, welche den gesellschaftlichen Kräften die poli¬
tischen Organe versagt, und dadurch die wirksame Verwendung derselben er¬
schwert oder unmöglich macht. Diesen Mißstand pflegt ein zweiter zu begleiten,
der nämlich, daß solche staatliche Glieder, aus denen sich die natürliche Lebenskraft
zurückzieht, vou der Verfassung künstlich gefristet werden. Den umgekehrten Fehler
hat die neuere Verfassuugspvlitik häufig dadurch begangen, daß sie dem Staate
im Namen irgend eines Princips oder einer Theorie willkürlich Organe ange¬
schaffen, denen kein gesellschaftlicher Krafttrieb entsprach, und die demnach, statt der
Lebensthätigkeit des Staats zu dienen, nur wie eine todte Last ans denselben
drücken konnten." (Seite S).

Das ist der vollkommen rationelle Ausdruck für das Princip, welches die
historische Schule aufgestellt, vou dem sie ab.er eine so unerhört falsche Anwendung
gemacht hat. Der Verfasser geht in seinem conservativen Sinn noch weiter.
Er sagt vollkommen richtig (Seite 8): „Die politische Größe des Staats ist
wesentlich mitbedingt durch eine gewisse Stetigkeit, nicht der staatlichen Formen,
sondern der realen gesellschaftlichen Zustände und ihrer Entwickelung. Nur ver¬
möge dieser Stetigkeit wird es möglich, einer bedeutenden Summe gesellschaft¬
licher Kräfte die einheitliche und unveränderliche Richtung auf einen bestimmten
staatlichen Zweck zu geben; nur vermöge dieser Stetigkeit läßt sich die Zeit
gewinnen, die unter allen Umständen erforderlich ist, um große und dauernde
politische Erfolge zu erringen. Durch krampfhafte Anstrengung mag allerdings
riesige Kraft entfaltet werden, aber die augenblicklichen staatlichen Wirkungen der¬
selben werden eine so flüchtig vorübergehende Ursache schwerlich lange überdauern,
es ist vielmehr sehr wahrscheinlich, daß im unausbleiblichen Momente der Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/358>, abgerufen am 23.07.2024.