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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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ist, was wir die allgemeine europäische Bildung nennen, zueinander in ein rieb.
tiges Verhältniß zu setzen und eine einheitliche positive Form daraus hervorgehe"
zu lassen. Da unzweifelhaft in der Religion die geistigste Form der Bildung
zu finden ist, so hat man sich einen solchen Proceß in der Regel in der Form
einer neuen Religion vorgestellt, die man entweder als einen Gegensatz zum
Christenthum, oder auch als eine Erfüllung desselben auffaßte.

Solange mau in dieser Voraussetzung sich lediglich an allgemeine Prophe-
zeihungen hält, ist es schwierig, für oder wider die Sache etwas zu sagen; denn
es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß in unserer Zeit, die mit Wissen so übersättigt
ist, noch einmal ein so gewaltiger Gährungsproceß eintreten sollte, ans dem sich
eine neue Offenbarung entwickeln könnte; allein ebensowenig läßt sich a, priori
die Möglichkeit eines solchen Ereignisses anfechten.

Anders ist es, wenn man unmittelbar Hand ans Werk legt, wenn mau auf
die bestimmten Elemente hinweist, aus denen . das neue Evangelium hervorgehen
soll, und dieselben sofort in Angriff nimmt. In diesem Fall kaun man sich über
die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigst eines solchen Verfahrens ein sehr be¬
stimmtes Urtheil bilden, und wir haben uns schon mehrfach dahin ausgesprochen,
daß wir vou dieser neuen Religivnöküche ganz und gar nichts halten, daß wir
vielmehr der Ueberzeugung sind, sie wirke nur störend und verwirrend ans die
natürliche Entwickelung der Menschheit ein.

Einer der eifrigsten Apostel dieser neuen Religion ist Herr Noack, und er
entwickelt darin eine wahrhaft staunenswerthe Thätigkeit. Wir haben schon eine
ziemliche Anzahl seiner Schriften besprochen; die gegenwärtige, in der anch gegen
uns polemisirt wird, gibt uns Gelegenheit, ausführlicher auf die Sache ein¬
zugehen.

Zunächst müssen wir einen Irrthum berichtigen, in den Herr Noack in Be¬
ziehung auf unsere früheren Aeußerungen verfallen ist. Er glaubt, daß wir uus
darum gegen eine Vermischung des Christenthums und des Humanismus zu einer
neuen Neligioussorm ausgesprochen haben, weil wir vom Christenthum eine
zu geringe Meinung hätten, und citirt uus einen neuern Schriftsteller, ans dem
wir lernen sollen, was im Christenthum für ungeheure Dinge gelegen haben.
Es ist das eine ganz überflüssige Mühe; wir kennen das Christenthum sehr wohl
und haben eine weit größere Meinung von ihm, als seiue Verbesserer. Wir er¬
kenne" im Christenthum nicht blos die gewaltigste historische Kraft, die im Lauf
der Weltgeschichte sich der Menschheit bemächtigt und sie Jahrtausende lang be¬
herrscht hat, sondern wir sehen in ihm auch gegenwärtig noch die größte unter
allen geistigen Mächten, die in den Herzen des Volks Wurzel geschlagen haben.
Man muß vollkommen blind sein, wen" man eine von diesen beiden Thatsachen
ableugnen will; aber wir glauben, daß es sich mit dem Respect vor einer so
gewaltigen historische" Erscheinung schlecht verträgt, wenn man ihr ihre wirkliche


ist, was wir die allgemeine europäische Bildung nennen, zueinander in ein rieb.
tiges Verhältniß zu setzen und eine einheitliche positive Form daraus hervorgehe»
zu lassen. Da unzweifelhaft in der Religion die geistigste Form der Bildung
zu finden ist, so hat man sich einen solchen Proceß in der Regel in der Form
einer neuen Religion vorgestellt, die man entweder als einen Gegensatz zum
Christenthum, oder auch als eine Erfüllung desselben auffaßte.

Solange mau in dieser Voraussetzung sich lediglich an allgemeine Prophe-
zeihungen hält, ist es schwierig, für oder wider die Sache etwas zu sagen; denn
es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß in unserer Zeit, die mit Wissen so übersättigt
ist, noch einmal ein so gewaltiger Gährungsproceß eintreten sollte, ans dem sich
eine neue Offenbarung entwickeln könnte; allein ebensowenig läßt sich a, priori
die Möglichkeit eines solchen Ereignisses anfechten.

Anders ist es, wenn man unmittelbar Hand ans Werk legt, wenn mau auf
die bestimmten Elemente hinweist, aus denen . das neue Evangelium hervorgehen
soll, und dieselben sofort in Angriff nimmt. In diesem Fall kaun man sich über
die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigst eines solchen Verfahrens ein sehr be¬
stimmtes Urtheil bilden, und wir haben uns schon mehrfach dahin ausgesprochen,
daß wir vou dieser neuen Religivnöküche ganz und gar nichts halten, daß wir
vielmehr der Ueberzeugung sind, sie wirke nur störend und verwirrend ans die
natürliche Entwickelung der Menschheit ein.

Einer der eifrigsten Apostel dieser neuen Religion ist Herr Noack, und er
entwickelt darin eine wahrhaft staunenswerthe Thätigkeit. Wir haben schon eine
ziemliche Anzahl seiner Schriften besprochen; die gegenwärtige, in der anch gegen
uns polemisirt wird, gibt uns Gelegenheit, ausführlicher auf die Sache ein¬
zugehen.

Zunächst müssen wir einen Irrthum berichtigen, in den Herr Noack in Be¬
ziehung auf unsere früheren Aeußerungen verfallen ist. Er glaubt, daß wir uus
darum gegen eine Vermischung des Christenthums und des Humanismus zu einer
neuen Neligioussorm ausgesprochen haben, weil wir vom Christenthum eine
zu geringe Meinung hätten, und citirt uus einen neuern Schriftsteller, ans dem
wir lernen sollen, was im Christenthum für ungeheure Dinge gelegen haben.
Es ist das eine ganz überflüssige Mühe; wir kennen das Christenthum sehr wohl
und haben eine weit größere Meinung von ihm, als seiue Verbesserer. Wir er¬
kenne» im Christenthum nicht blos die gewaltigste historische Kraft, die im Lauf
der Weltgeschichte sich der Menschheit bemächtigt und sie Jahrtausende lang be¬
herrscht hat, sondern wir sehen in ihm auch gegenwärtig noch die größte unter
allen geistigen Mächten, die in den Herzen des Volks Wurzel geschlagen haben.
Man muß vollkommen blind sein, wen» man eine von diesen beiden Thatsachen
ableugnen will; aber wir glauben, daß es sich mit dem Respect vor einer so
gewaltigen historische» Erscheinung schlecht verträgt, wenn man ihr ihre wirkliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/349>, abgerufen am 23.07.2024.