Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gestalt nehmen und ein deren Stelle seine eignen Einfälle setzen will, welchen
Namen man denselben auch geben mag. Der Geist des Christenthums und der
Geist deö Humanismus in der jetzt gebräuchlichen Bedeutung des Worts sind
ihrem Princip nach entgegengesetzt, und wenn sich auch vielfache Berührungspunkte
zwischen beiden finden, und wenn das eine auch auf das andre vielfach bildend
einwirkt, so wird dadurch der wesentliche Gegensatz nicht aufgehoben. Sehr
belehrend ist in dieser Beziehung das oben angeführte Werk des Consistorialrath
Böhmer. Er ist ein sehr aufgeklärter und freisinniger Theolog; es kommt ihm
mehr ans die Herstellung eines sittlichen Lebens im christlichen Geist, als auf die
Rechtfertigung der Dogmen an, er verschließt sich nicht vornehm gegen die Ver¬
suche der modernen Philosophie, er hat sie vielmehr sehr sorgfältig studirt und
sich auch bemüht, dasjenige anzuerkennen, was er von seinem Standpunkt aus
in ihnen wahres findet; und doch ist auch in ihm überall eine sehr bestimmte
Scheidelinie aufzufinden, welche die Grenze zwischen den beiden Weltanschauungen
bildet.

Wir wollen das keineswegs so verstehen, als ob das Christenthum ein ein¬
facher, abstracter Begriff wäre. Wir wissen sehr wohl, daß es eine concrete
historische Erscheinung ist, die sich mit anderweitigen Bildungselementen vielfach
gesättigt und die verschiedenartigsten Formen ans sich entwickelt hat. Wir wissen,
daß sich das Christenthum im römischen und byzantinischen Reich sehr wesentlich
von dem mittelalterlichen abendländischen Christenthum unterscheidet, ebenso wie der
romanische Katholicismus vom germanischen Protestantismus. Das Christenthum
ist unter allen Religionen die bildungsfähigste. Es kann die meisten fremdartigen
Elemente aufnehmen, ohne darüber den Kern seines Wesens einzubüßen; aber
dieser Asstmilatiousproceß hat seine Grenzen; wenn man ihm zumuthet, gradezu
feindliche Stoffe in sich aufzunehmen, so ist seine Kraft groß genug, dieselben mit
der größten Entschiedenheit wieder zu entfernen.

Wir sind in der Auffassung des Christenthums uicht so einseitig, wie z. B.
Feuerbach, der sich eine kanonische Form des Christenthums, wie es eigentlich
sein sollte, zusammen phantasirte, und alle übrigen historischen Erscheinungen des
Christenthums als ketzerisch verwarf. Wir halten z. B. Kants "Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft" noch für ein entschieden christliches Buch,
obgleich es sich unter allen rationalistische" Schriften am weitesten von der
Dogmatik entfernt, obgleich es den Inhalt des christlichen Bewußtseins auf ein
Minimum zusammendrängt; aber die Hauptsache bleibt bestehen, das überirdische
unfehlbare Sittengesetz, das auf Erden nur im Gewisse" sich offenbart, also nur
in der Forderung, während seine reale Erfüllung in eine jenseitige Welt und in
ein über der Natur stehendes höchstes Wesen verlegt wird. Dies ist der Punkt,
mit dem das Christenthum steht oder fällt. Darum halte" wir ein andres
berühmtes Buch, die "Reden über die Religion" von Schleiermacher, obgleich es


Gestalt nehmen und ein deren Stelle seine eignen Einfälle setzen will, welchen
Namen man denselben auch geben mag. Der Geist des Christenthums und der
Geist deö Humanismus in der jetzt gebräuchlichen Bedeutung des Worts sind
ihrem Princip nach entgegengesetzt, und wenn sich auch vielfache Berührungspunkte
zwischen beiden finden, und wenn das eine auch auf das andre vielfach bildend
einwirkt, so wird dadurch der wesentliche Gegensatz nicht aufgehoben. Sehr
belehrend ist in dieser Beziehung das oben angeführte Werk des Consistorialrath
Böhmer. Er ist ein sehr aufgeklärter und freisinniger Theolog; es kommt ihm
mehr ans die Herstellung eines sittlichen Lebens im christlichen Geist, als auf die
Rechtfertigung der Dogmen an, er verschließt sich nicht vornehm gegen die Ver¬
suche der modernen Philosophie, er hat sie vielmehr sehr sorgfältig studirt und
sich auch bemüht, dasjenige anzuerkennen, was er von seinem Standpunkt aus
in ihnen wahres findet; und doch ist auch in ihm überall eine sehr bestimmte
Scheidelinie aufzufinden, welche die Grenze zwischen den beiden Weltanschauungen
bildet.

Wir wollen das keineswegs so verstehen, als ob das Christenthum ein ein¬
facher, abstracter Begriff wäre. Wir wissen sehr wohl, daß es eine concrete
historische Erscheinung ist, die sich mit anderweitigen Bildungselementen vielfach
gesättigt und die verschiedenartigsten Formen ans sich entwickelt hat. Wir wissen,
daß sich das Christenthum im römischen und byzantinischen Reich sehr wesentlich
von dem mittelalterlichen abendländischen Christenthum unterscheidet, ebenso wie der
romanische Katholicismus vom germanischen Protestantismus. Das Christenthum
ist unter allen Religionen die bildungsfähigste. Es kann die meisten fremdartigen
Elemente aufnehmen, ohne darüber den Kern seines Wesens einzubüßen; aber
dieser Asstmilatiousproceß hat seine Grenzen; wenn man ihm zumuthet, gradezu
feindliche Stoffe in sich aufzunehmen, so ist seine Kraft groß genug, dieselben mit
der größten Entschiedenheit wieder zu entfernen.

Wir sind in der Auffassung des Christenthums uicht so einseitig, wie z. B.
Feuerbach, der sich eine kanonische Form des Christenthums, wie es eigentlich
sein sollte, zusammen phantasirte, und alle übrigen historischen Erscheinungen des
Christenthums als ketzerisch verwarf. Wir halten z. B. Kants „Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft" noch für ein entschieden christliches Buch,
obgleich es sich unter allen rationalistische» Schriften am weitesten von der
Dogmatik entfernt, obgleich es den Inhalt des christlichen Bewußtseins auf ein
Minimum zusammendrängt; aber die Hauptsache bleibt bestehen, das überirdische
unfehlbare Sittengesetz, das auf Erden nur im Gewisse» sich offenbart, also nur
in der Forderung, während seine reale Erfüllung in eine jenseitige Welt und in
ein über der Natur stehendes höchstes Wesen verlegt wird. Dies ist der Punkt,
mit dem das Christenthum steht oder fällt. Darum halte» wir ein andres
berühmtes Buch, die „Reden über die Religion" von Schleiermacher, obgleich es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96525"/>
          <p xml:id="ID_1234" prev="#ID_1233"> Gestalt nehmen und ein deren Stelle seine eignen Einfälle setzen will, welchen<lb/>
Namen man denselben auch geben mag. Der Geist des Christenthums und der<lb/>
Geist deö Humanismus in der jetzt gebräuchlichen Bedeutung des Worts sind<lb/>
ihrem Princip nach entgegengesetzt, und wenn sich auch vielfache Berührungspunkte<lb/>
zwischen beiden finden, und wenn das eine auch auf das andre vielfach bildend<lb/>
einwirkt, so wird dadurch der wesentliche Gegensatz nicht aufgehoben. Sehr<lb/>
belehrend ist in dieser Beziehung das oben angeführte Werk des Consistorialrath<lb/>
Böhmer. Er ist ein sehr aufgeklärter und freisinniger Theolog; es kommt ihm<lb/>
mehr ans die Herstellung eines sittlichen Lebens im christlichen Geist, als auf die<lb/>
Rechtfertigung der Dogmen an, er verschließt sich nicht vornehm gegen die Ver¬<lb/>
suche der modernen Philosophie, er hat sie vielmehr sehr sorgfältig studirt und<lb/>
sich auch bemüht, dasjenige anzuerkennen, was er von seinem Standpunkt aus<lb/>
in ihnen wahres findet; und doch ist auch in ihm überall eine sehr bestimmte<lb/>
Scheidelinie aufzufinden, welche die Grenze zwischen den beiden Weltanschauungen<lb/>
bildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1235"> Wir wollen das keineswegs so verstehen, als ob das Christenthum ein ein¬<lb/>
facher, abstracter Begriff wäre. Wir wissen sehr wohl, daß es eine concrete<lb/>
historische Erscheinung ist, die sich mit anderweitigen Bildungselementen vielfach<lb/>
gesättigt und die verschiedenartigsten Formen ans sich entwickelt hat. Wir wissen,<lb/>
daß sich das Christenthum im römischen und byzantinischen Reich sehr wesentlich<lb/>
von dem mittelalterlichen abendländischen Christenthum unterscheidet, ebenso wie der<lb/>
romanische Katholicismus vom germanischen Protestantismus. Das Christenthum<lb/>
ist unter allen Religionen die bildungsfähigste. Es kann die meisten fremdartigen<lb/>
Elemente aufnehmen, ohne darüber den Kern seines Wesens einzubüßen; aber<lb/>
dieser Asstmilatiousproceß hat seine Grenzen; wenn man ihm zumuthet, gradezu<lb/>
feindliche Stoffe in sich aufzunehmen, so ist seine Kraft groß genug, dieselben mit<lb/>
der größten Entschiedenheit wieder zu entfernen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1236" next="#ID_1237"> Wir sind in der Auffassung des Christenthums uicht so einseitig, wie z. B.<lb/>
Feuerbach, der sich eine kanonische Form des Christenthums, wie es eigentlich<lb/>
sein sollte, zusammen phantasirte, und alle übrigen historischen Erscheinungen des<lb/>
Christenthums als ketzerisch verwarf. Wir halten z. B. Kants &#x201E;Religion innerhalb<lb/>
der Grenzen der bloßen Vernunft" noch für ein entschieden christliches Buch,<lb/>
obgleich es sich unter allen rationalistische» Schriften am weitesten von der<lb/>
Dogmatik entfernt, obgleich es den Inhalt des christlichen Bewußtseins auf ein<lb/>
Minimum zusammendrängt; aber die Hauptsache bleibt bestehen, das überirdische<lb/>
unfehlbare Sittengesetz, das auf Erden nur im Gewisse» sich offenbart, also nur<lb/>
in der Forderung, während seine reale Erfüllung in eine jenseitige Welt und in<lb/>
ein über der Natur stehendes höchstes Wesen verlegt wird. Dies ist der Punkt,<lb/>
mit dem das Christenthum steht oder fällt. Darum halte» wir ein andres<lb/>
berühmtes Buch, die &#x201E;Reden über die Religion" von Schleiermacher, obgleich es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Gestalt nehmen und ein deren Stelle seine eignen Einfälle setzen will, welchen Namen man denselben auch geben mag. Der Geist des Christenthums und der Geist deö Humanismus in der jetzt gebräuchlichen Bedeutung des Worts sind ihrem Princip nach entgegengesetzt, und wenn sich auch vielfache Berührungspunkte zwischen beiden finden, und wenn das eine auch auf das andre vielfach bildend einwirkt, so wird dadurch der wesentliche Gegensatz nicht aufgehoben. Sehr belehrend ist in dieser Beziehung das oben angeführte Werk des Consistorialrath Böhmer. Er ist ein sehr aufgeklärter und freisinniger Theolog; es kommt ihm mehr ans die Herstellung eines sittlichen Lebens im christlichen Geist, als auf die Rechtfertigung der Dogmen an, er verschließt sich nicht vornehm gegen die Ver¬ suche der modernen Philosophie, er hat sie vielmehr sehr sorgfältig studirt und sich auch bemüht, dasjenige anzuerkennen, was er von seinem Standpunkt aus in ihnen wahres findet; und doch ist auch in ihm überall eine sehr bestimmte Scheidelinie aufzufinden, welche die Grenze zwischen den beiden Weltanschauungen bildet. Wir wollen das keineswegs so verstehen, als ob das Christenthum ein ein¬ facher, abstracter Begriff wäre. Wir wissen sehr wohl, daß es eine concrete historische Erscheinung ist, die sich mit anderweitigen Bildungselementen vielfach gesättigt und die verschiedenartigsten Formen ans sich entwickelt hat. Wir wissen, daß sich das Christenthum im römischen und byzantinischen Reich sehr wesentlich von dem mittelalterlichen abendländischen Christenthum unterscheidet, ebenso wie der romanische Katholicismus vom germanischen Protestantismus. Das Christenthum ist unter allen Religionen die bildungsfähigste. Es kann die meisten fremdartigen Elemente aufnehmen, ohne darüber den Kern seines Wesens einzubüßen; aber dieser Asstmilatiousproceß hat seine Grenzen; wenn man ihm zumuthet, gradezu feindliche Stoffe in sich aufzunehmen, so ist seine Kraft groß genug, dieselben mit der größten Entschiedenheit wieder zu entfernen. Wir sind in der Auffassung des Christenthums uicht so einseitig, wie z. B. Feuerbach, der sich eine kanonische Form des Christenthums, wie es eigentlich sein sollte, zusammen phantasirte, und alle übrigen historischen Erscheinungen des Christenthums als ketzerisch verwarf. Wir halten z. B. Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" noch für ein entschieden christliches Buch, obgleich es sich unter allen rationalistische» Schriften am weitesten von der Dogmatik entfernt, obgleich es den Inhalt des christlichen Bewußtseins auf ein Minimum zusammendrängt; aber die Hauptsache bleibt bestehen, das überirdische unfehlbare Sittengesetz, das auf Erden nur im Gewisse» sich offenbart, also nur in der Forderung, während seine reale Erfüllung in eine jenseitige Welt und in ein über der Natur stehendes höchstes Wesen verlegt wird. Dies ist der Punkt, mit dem das Christenthum steht oder fällt. Darum halte» wir ein andres berühmtes Buch, die „Reden über die Religion" von Schleiermacher, obgleich es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/350>, abgerufen am 23.07.2024.